Toros Sarian

Märchenland Deutschland

Märchen sind erfundene Geschichten, die man in der Kindheit gerne gehört hat. Fast in jeder Gesellschaft wachsen Kinder mit Märchen auf, die sie von den Erwachsenen entweder erzählt oder vorgelesen bekommen. Je älter man wird, desto mehr verblasst der magische Zauber, der in der Kindheit gehörten Märchen. Es gab hinter den sieben Bergen keine sieben Zwerge, es gab kein Aschenputtel und auch keine Rapunzel. Alles war ausgedacht, man könnte auch erlogen sagen. Die Redewendung „erzähl mir keine Märchen“ bedeutet schließlich auch, dass man das, was jemand erzählt, für etwas Erfundenes, für eine Lüge hält.

Die Geschichte und Gegenwart der Menschheit ist voller politischer Märchen, Mythen und Legenden. Sie handeln von  politischen Entwicklungen, Ereignisse oder Personen. Oft ist die herrschende bzw. offizielle Sicht ein Märchen, das vom Staat oder der Regierung vorgegeben wird. Aber auch Intellektuelle und Wissenschaftler unterschiedlicher politischer Überzeugung erzählen oder schreiben Märchen mit, um die Bevölkerung in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Wenn Märchen nur eine Form von frei erfundenen, wundersamen Geschichten wären, die unterhaltsam sind und die Phantasie anregen, dann bräuchte man sich keine Gedanken machen oder Angst haben. Die vielen politischen Märchen jedoch, die aus den unterschiedlichsten Motiven ausgedacht und verbreitet werden, sind aber eben nicht harmlos. Sie tragen oft entscheidend dazu bei, die Gesellschaft in einem bestimmten Sinne zu manipulieren. „Fake-News“ mögen vielleicht einfacher zu erkennen sein, aber die vielen politischen Märchen, Mythen und Legenden, mit denen wir aufwachsen, sind es nicht.

Unschuldig und von hinten erdolcht

Auch in Deutschland wurden bzw. werden ständig Märchen über politische und historische Ereignisse verbreitet. Die kaiserliche Regierung gewann die SPD für ihre Kriegspolitik 1914, indem sie ihnen das Märchen von der russischen Bedrohung erzählte. Die Sozialdemokraten bzw. die von ihr  geführte Arbeiterschaft, die kurz zuvor noch auf großen Kundgebungen gegen einen drohenden Krieg marschiert waren und als „vaterlandslose Gesellen“ bezeichnet wurden, kämpften dann unter dem Kommando der kaiserlichen Militaristen gegen den zaristischen Bösewicht und seine Alliierten.

Nach der Kapitulation und dem Versailler Vertrag wurde das Märchen von der deutschen Unschuld am Kriegsausbruch erfunden. Demnach sei Deutschland ungewollt in einen Krieg hineingezogen worden. An dieses Märchen wurde noch bis in die 60er Jahre geglaubt. Der Historiker Fritz Fischer bezweifelte in seinem 1961 und 1969 veröffentlichten Werken „Griff nach der Weltmacht“ und „Krieg der Illusionen“ die deutsche Unschuld. Die Empörung über den „Nestbeschmutzer“ war – wie zu erwarten – groß. Wer es als Wissenschaftler wagt, eines der Lieblingsmärchen der deutschen Geschichtswissenschaft anzuzweifeln, hat es schwer.

Nach der deutschen Kapitulation im Herbst 1918 wurde von den Militärs und ihnen nahestehenden politischen Kreisen „Dolchstoßlegende“ verbreitet. In diesem Märchen wurde erzählt, dass die Reichswehr auf dem Schlachtfeld unbesiegt geblieben wäre. Die Kriegsgegner im Land hätten mit ihrer Anti-Kriegs Agitationen den Kampfwillen der Soldaten untergraben und so die Kapitulation herbeigeführt. Vor allem diese zwei Märchen dienten später vor allem den Hitlerfaschisten dazu, die Bevölkerung auf einen erneuten Krieg vorzubereiten. Deutschland sollte dadurch die Fesseln des „Schmachfriedens“ loswerden. So wurden Märchen ein Bestandteil faschistischer Propaganda und Kriegsvorbereitung.

Verschwörungstheorien gehören zum Repertoire politischer Märchenerzähler, weil sie sich gut für die Manipulation der Bevölkerung eignen. Um sie auf einen neuen Krieg einzuschwören, benötigten Faschisten einen Feind, der eine globale Gefahr für Deutschland darstellt. Der Antisemitismus und der Antikommunismus waren bereits zwei wesentliche Elemente des deutschen Faschismus. Es war also naheliegend,  beides mit einem Verbindungsstrich zu verbinden: das Märchen von der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ war für die deutschen Faschisten ein  ideales Feindbild mit  globaler Dimension. Dieses Märchen war eigentlich ein Plagiat: es war bereits während des Russischen Bürgerkrieges von anti-bolschewistischen Kräften in Russland in die Welt gesetzt worden.

Die deutschen Blitzkrieger

Bis heute glauben noch viele – nicht nur Deutsche – an das Märchen vom deutschen Militär, das  innerhalb kurzer Zeit fast ganz Europa überrannt hätte. Wenn man sich den Kriegsverlauf anschaut, fällt auf, dass die Wehrmacht außer Frankreich keinen nennenswerten Gegner besiegt hatte. Polen stellte für die hochgerüstete und zahlenmäßig weit überlegene Wehrmacht kein Problem dar. Ohne nennenswerten Widerstand besetze sie den Balkan  und drang schnell bis nach Griechenland vor. Der Feldzug in Nordafrika scheiterte aber kläglich, Großbritannien und die Sowjetunion konnten nicht geschlagen werden und nach dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 war eigentlich alles entschieden.

Ein lange Zeit beliebtes Märchen war die von der Wehrmacht: Offiziere und Soldaten hätten nur ihre „Pflicht“ verrichtet  und sich nicht an den Verbrechen des Hitlerfaschismus beteiligt. Erst durch die vom Hamburger Institut für Sozialforschung zusammengestellte Wehrmachtsausstellung erfuhr eine breite Öffentlichkeit von den Verbrechen des deutschen Militärs.

Bereits während des 1. Weltkrieges hatte die kaiserliche Reichswehr Gräueltaten an Zivilisten verübt: Nachdem sie das neutrale Belgien besetzt hatten, massakrierten deutsche Soldaten im August 1914 in der Stadt Dinat 674 Zivilisten. Die von der Wehrmacht verübten Verbrechen während des 2. Weltkrieges hatten aber weitaus größere Dimension, vor allem in der Sowjetunion, wo mindestens 20 Millionen Zivilisten getötet wurden. Aber auch in anderen Teilen Europas verübte die Wehrmacht Massaker an der Zivilbevölkerung.

Die Wehrmachtsakte Helmut Schmidt

Die Angehörigkeit zur Waffen-SS war nach 1945 schwer zu rechtfertigen und stellte einen doch erheblichen „Makel“ dar. Wer sich in der Wehrmacht an Verbrechen beteiligt hatte, konnte sich relativ leicht damit herausreden, dass man  nur Befehle ausgeführt hatte. Die Wehrmacht wurde im Nachhinein quasi als Opfer des faschistischen Herrschaftssystems dargestellt: die Militärs seien von den Faschisten instrumentalisiert worden usw. Vor allem nach der Gründung der Bundeswehr wurde versucht, die Geschichte der Wehrmacht in einem möglichst makellosen Licht erscheinen zu lassen. Dies wurde umso wichtiger, als ehemalige Wehrmachtsoffiziere eine wichtige Rolle beim Aufbau der Bundeswehr übernahmen. Wer aber eine politische Laufbahn einschlug, hatte es schwieriger, vor allem dann, wenn er nachweislich auch noch der faschistischen Organisationsstruktur angehörte und sich dort hervorgetan hatte.

Helmut Schmidt ist wohl der bekannteste Politiker, der trotz Angehörigkeit zur Hitlerjugend und Wehrmacht einer der wichtigsten Politiker der Nachkriegszeit wurde. Sehr spät kamen die dunklen Seiten dieser politischen Ikone der Bundesrepublik ans Tageslicht.

Die Öffentlichkeit erfuhr erst ein Jahr vor seinem Tod über die dunklen Seiten seines Lebens aus der von Sabine Pamperrien verfassten und 2014 veröffentlichten Biographie „Helmut Schmidt und der Scheißkrieg“; für Helmut Schmidt Fans sicherlich ein Scheißbuch. Der spätere Sozialdemokrat und Bundeskanzler, der einen jüdischen Großvater hatte, war freiwillig in die Hitlerjugend eingetreten und brachte es in der Wehrmacht zum Rang eines Oberstleutnants. Dies alleine mag vielleicht nicht so erschrecken. Aber was in der Wehrmachtsakte Schmidt stand, war es. Schmidt würde „auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung“ stehen, urteilte der Verfasser des Akteneintrags. Im Jahr 1943 wurde erneut bestätigt, dass er eine „einwandfreie nationalsozialistische Haltung“ habe. Er wurde in den höchsten Tönen gelobt: „Leistungsfreude, Verantwortungsbewusstsein und stets der Sache dienende, eigenwillige, zielstrebige Art, stempeln ihn zu einem vorzüglichen Sachbearbeiter. Nationalsozialistische Haltung tadelfrei.“ Auf deutsche Akten kann man sich verlassen; der „vorzügliche Sachbearbeiter mit tadelfreier nationalsozialistischer Haltung“ hätte im faschistischen System vermutlich noch sehr weit nach oben kommen können.

Nach Beging des Angriffs auf die Sowjetunion wurde Schmidt ab August 1941 für wenige Monate an der Ostfront bei Leningrad eingesetzt. Offenbar bewährte er sich dort, denn er wurde mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet. Bevor der Krieg gegen die Rote Armee 1942/43 eine katastrophale Wende nahm, war er längst wieder in Deutschland. Warum aber wurde ein Offizier, der immerhin ein Eisernes Kreuz erhalten hatte, von der kriegsentscheidenden Front abgezogen?

Die Begabten ins „Hinterland“, der Rest an die Front!

In Kindermärchen passieren oft Wunder, die den Helden vor einer Katastrophe bewahren. Der spätere Sozialdemokrat und Bundeskanzler überlebte den 2. Weltkrieg nicht durch ein Wunder unbeschadet, sondern aufgrund seiner außerordentlichen Begabungen, die seine Vorgesetzten bei der Wehrmacht erkannt hatten. Sie verfügten offenbar nicht nur über gute Menschenkenntnisse, sondern waren auch sehr weitsichtig und human.

In der FAZ schrieb der Historiker und Publizist Michael Wolfssohn: „Im Hinterland wurde er – seiner Begabungen wegen – mehr gebraucht als an der Front. Man kann es brutal formulieren: Weil so begabt und einsatzfreudig, wurde er nicht als „Kanonenfutter“ ge- und missbraucht.“[1] Über 3 Mio. Soldaten und Offiziere  –  brutal formuliert: die ohne Begabung und Einsatzfreude – wurden in das „Unternehmen Barbarossa“ gesteckt und an die Rote Armee verfüttert. Die Wehrmacht erscheint so als Opfer des vom Hitlerfaschismus. Das „Kanonenfutter“ tötete nebenbei 25-30 Millionen Sowjetbürger.

Der Träger des Eisernen Kreuzes diente als Referent für Ausbildungsvorschriften der leichten Flakartillerie im Reichsluftfahrtsministerium in Berlin und in Bernau. Erst Ende 1944 wurde er für einige Monate an der Westfront eingesetzt. Im April fiel er in der Lüneburger Heide in britische Gefangenschaft; Ende August 1945 war er wieder frei.[2]

Das Entnazifizierungsmärchen

Nach der Niederlage 1945 erzählten die Deutschen ihre eigenen, persönlichen Märchen: Das Märchen, wonach sie über die Verbrechen des Hitlerfaschismus nichts gewusst hätten. Die Bundesrepublik Deutschland bemühte sich schließlich auch um ein positives Image: Es entstand das Märchen von der Aufarbeitung bzw. Vergangenheitsbewältigung – und das Märchen von der Erinnerungskultur.

Zu einem der merkwürdigsten Märchen der Nachkriegsgeschichte gehört die Geschichte von der „Entnazifizierung“. Anfangs erfolgte es unter Aufsicht der Alliierten, später überließen sie diese Aufgabe den Deutschen. Von der sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit konnte bei der „Entnazifizierung“ keine Rede sein. Einundsechzig Jahre nach Kriegsende gab der Literaturnobelpreisträger und SPD Anhänger Günter Grass zu, dass er in der Waffen-SS gedient hatte.[3] Zuvor hatte er noch behauptet, er sei 1944 als Flakhelfer eingezogen worden. Das „antibürgerliche“ an der faschistischen Partei, so behauptete Grass, hätte ihn genauso fasziniert, wie viel andere seiner Generation. Außerdem habe er  der Enge des Elternhauses entkommen wollen.  Als Begründung für sein langes Schweigen über seine Angehörigkeit in der Waffen-SS sagte er: „Es ist sicher so, dass ich glaubte, mit dem, was ich schreibend tat, genug getan zu haben. Ich habe ja meinen Lernprozess durchgemacht und daraus meine Konsequenzen gezogen. Aber es blieb dieser restliche Makel.“

Jesus hätte wohl gesagt, „wer unter euch ohne Makel ist, der werfe den ersten Stein“. Dem ehemaligen Waffen-SS-Angehörigen Grass blieb die Steinigung erspart – vielen anderen auch. Statt gesteinigt zu werden, machten sie Karriere: Der „vorzügliche Sachbearbeiter mit tadelfreier nationalsozialistischer Haltung“, der vorzeitig vom Kampf gegen die Rote Armee abgezogen wurde, kämpfte als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland erfolgreich gegen die Rote Armee Fraktion; die Universität der Bundeswehr in Hamburg heißt „Helmut Schmidt Universität“. In der SPD-Hochburg Hamburg gab es bis 1992 eine „Graf-Goltz-Kaserne“. Der Namensgeber Rüdiger von der Goltz war ein Reichswehroffizier, der in der Weimarer Republik Vorsitzender der rechten „Vereinigten vaterländischen Verbände Deutschlands“ war. Wie viele andere Reaktionäre, Nationalkonservative und Militaristen auch, hatte er sich für die Regierungsbeteiligung der NSDAP eingesetzt.[4] Die 1933 an die Regierungsmacht gelangten Faschisten dankten ihm, indem sie die 1938 fertiggestellte Kaserne nach ihm benannten. Die Bundeswehr hielt es später nicht für notwendig, diesen Namen zu ändern; dass eine Kaserne an einen dem Hitlerfaschismus wohlgesonnen Militaristen erinnerte, störte die SPD auch nicht.

Toros Sarian

[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/helmut-schmidt-vom-oberleutnant-zum-soldatenkanzler-13323194.html

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Schmidt

[3] http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/guenter-grass-enthuellt-ich-war-mitglied-der-waffen-ss-1354882.html

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%BCdiger_von_der_Goltz_(Offizier)