Toros Sarian

Die Tragödie der Minderheiten im Irak

Die ganze furchtbare Dimension der seit 2003 andauernden Kriege im Irak und Syrien ist der Öffentlichkeit im Westen kaum bewusst. Eine Wiege der Zivilisation ist in ein Schlachtfeld verwandelt, die Lebensgrundlage von Millionen von Menschen  zerstört worden. Es ist immer noch nicht absehbar, wann dieser Alptraum für die dortigen Menschen enden wird. Die Flucht ist für viele der letzte Ausweg, um aus dem Inferno zu entkommen. Manche schaffen es bis nach Westeuropa, viele leben unter katastrophalen Zuständen in Lagern im Libanon, Jordanien oder der Türkei. Die Flüchtlinge müssen dort für ein Hungerlohn den ganzen Tag schuften, um zu überleben. Die hochgeschätzte orientalische Gastfreundschaft gilt nur für Touristen, die für einige Wochen bleiben und möglichst viel Geld ausgeben.

Unter den Flüchtlingen, die es bis nach Deutschland, Frankreich oder Schweden schaffen, sind zahlreiche Christen. Dass vor allem Syrien in der Geschichte des Christentums eine besondere Bedeutung hat, ist in der westlichen Öffentlichkeit kaum bekannt. Viele gehen wie selbstverständlich davon aus, dass ein aus dem Nahen Osten geflüchteter Mensch sicherlich ein Moslem sei. Katholische und protestantische Kirchgänger wissen manchmal mehr über den Islam als über die Geschichte und Gegenwart der orientalischen Christen. Von der Existenz kurdischen Eziden im Irak erführ die Welt erst, nachdem der „IS“ im Sommer 2014 einen Völkermord an dieser Gemeinschaft verübte. Anderen kleine ethnisch-religiöse Minderheiten wie die Mandäer, Schabak oder Kaka’i haben während der Herrschaft des „IS“ genauso gelitten. Die Minderheiten des Irak sind  seit vielen Jahren Verfolgung, Diskriminierung, Willkür und Gewalt sowohl seitens des Staates als auch der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt, ohne dass die Welt davon etwas erfährt.

Völkermord und Vertreibung

Als im Sommer 2014 die Einheiten des „Islamischen Staates“ in den Irak einfielen, gehörten die im Gebiet des Sindschar Gebirges lebenden Eziden zu ihren ersten Opfern.  In den Einheiten des „IS“, die Gräueltaten an den Eziden verübten, waren teilweise auch Angehörige von arabischen Stämmen der Region.

Aus den Berichten von überlebenden Eziden geht hervor, dass sich auch Teile ihrer arabisch-sunnitische Bevölkerung der Region an den Übergriffen gegen sie beteiligten. «Es ist nicht ‹Daesh› (das aus der arabischen Abkürzung für Islamischer Staat im Irak und in Syrien), “ so eine überlebende Ezidin, „sondern die Araber, die mir Angst machen».[1] Wenn eine Minderheit immer damit rechnen muss, dass selbst die in unmittelbarer Nachbarschaft lebenden Menschen plötzlich zu Feinden werden, dann fühlt sie sich nie sicher. Den aus ihren Dörfern geflüchteten Eziden fällt es vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen sehr schwer, wieder in ihrer Wohnorte zurückzukehren und mit Nachbarn zu leben, denen sie nicht vertrauen können.

Vom Terror des IS waren außer den Eziden insbesondere die christlichen Assyrer, Chaldäer und Syrer (auch Aramäer genannte syrisch-orthodoxe Christen) betroffen, deren Hauptsiedlungsgebiet vor allem in der Ninive-Ebene nördlich und westlich von Mosul liegt. Genauso wie die Eziden wurden auch Christen Opfer von Übergriffen ihrer muslimischen Nachbarn, als der „IS“ in die Provinz Mossul einfiel: „Wir haben Mossul verlassen, weil der IS in die Stadt kam. Die [sunnitisch-muslimische] Bevölkerung Mossuls begrüßte die Ankunft des IS und jagte die Christen aus der Stadt. Als der IS nach Mossul kam, bejubelten die Menschen sie und jagten die Christen fort … Die Menschen, die den IS begrüßten, die Menschen, die dort mit uns zusammenlebten … Ja, meine Nachbarn. Unsere eigenen Nachbarn und andere Menschen bedrohten uns“, berichtete eine aus der Stadt geflohener Christ.[2]

Eziden und Christen konnten sich nur durch eine Flucht in das Kurdische Autonomiegebiet in Sicherheit bringen. Außerhalb des Autonomiegebiets sind sie auch nach der Zerschlagung des „IS“ ständiger Bedrohung, Willkür und Diskriminierung ausgesetzt.

Die unbekannten Minderheiten

Es gibt aber im Irak noch andere ethnisch-religiöse Minderheiten, über die noch weitaus weniger bekannt ist, als über die Eziden und die christlichen Gemeinschaften.  Dazu zählen die Mandäer, die eine monotheistische Glaubensgemeinschaft bilden, deren Anhänger im Irak und im Iran leben. Sie werden zwar als eine monotheistische Buchreligion vom Islam anerkannt, doch trotzdem sind sie vielfältigen Formen der Diskriminierung und Unterdrückung ausgesetzt. In einer Region, wo oft Gewalt und Kriege herrschen, haben es die friedfertigen Mandäer schwer.

Yassmen Yahya, die Vorsitzende der Synode der Mandäer in Australien, beschreibt die Haltung der Mandäer zu Gewalt mit folgenden Worten: „Wir sind Pazifisten. Deshalb kommt für uns nicht in Frage, bei einem Konflikt Gewalt anzuwenden. Bereits als Kinder lernen wir, Streitigkeiten aus dem Weg zu gehen und Kompromisse zu schließen. Aber dieses Verhalten hat in den letzten Jahren in unserer Heimat nicht zum gewünschten Erfolg geführt, und viele mussten das Land verlassen. 2003 lebten im Irak 70.000 Mandäer, aber jetzt sind es nur noch knapp fünf Tausend.“[3]

Ob die wenigen noch verbliebenen Mandäer in einer von religiösem Fanatismus und Gewalt bestimmten Umgebung überleben werden, ist höchst ungewiss. Entweder beugen sie sich dem Druck, zum Islam überzutreten, oder sie emigrieren. Ob sie in der Diaspora ihre Identität bewahren können, ist aber ebenfalls fraglich, denn in Australien oder Europa sind sie zwar vor Verfolgung und Unterdrückung sicher, aber als eine sehr kleine Gemeinschaft werden sie einem großen Assimilationsdruck ausgesetzt sein.

Eine weitere Gemeinschaft, deren Existenz im Irak akut bedroht ist, sind die Schabak, die vor allem in der Provinz Mossul leben. Die etwa 60.000 Schabak sind nur schwer zu einer der großen ethnischen Gruppen des Irak zuzuordnen, viele von ihnen betrachten sich als Kurden. Ihre Identität durch verschiedene sprachliche und religiöse Elemente geprägt ist. Genauso wie Eziden und die Angehörigen der christlichen Gemeinschaften wurden sie während der Herrschaft des „IS“ grausam verfolgt. Die Schabak werden sich dem Assimilationsdruck seitens der großen religiösen und ethnischen Gruppen kaum entziehen können. Aber durch eine Eingliederung ihrer Dörfer in das kurdische Autonomiegebiet würden sie zumindest mehr Sicherheit erhalten.

Ebenfalls im Nordirak in der Ninive-Ebene und bei Kirkuk leben die Kaka’i, die sich Ahl-e Haqq (Volk der Wahrheit)  bezeichnen. Die etwa 200.000 Anhänger eines mystischen Islam, der Elemente des Zoroastrismus und Schismas beinhaltet, sprechen einen kurdischen Dialekt und sind auch ethnisch den Kurden zuzuordnen.  In der Ninive-Ebene wurden ihre Dörfer vom „IS“ verwüstet, die Bewohner konnten sich in das kurdische Autonomiegebiet in Sicherheit bringen. Als ethnische Kurden genießen die Kaka’i einen gewissen Schutz durch die Autonomieverwaltung. Ob die besondere religiöse Identität auf die Dauer überleben wird, hängt von einer toleranten Politik der Regierung in Erbil ab. Immerhin sind die Kaka’i im Autonomiegebiet seit 2015 offiziell als religiöse Gemeinschaft anerkannt.[4]

Die Diaspora muss helfen

Die bis heute andauernden Kriege, die Gewalt und politische Instabilität im Nahen Osten haben vor allem für die Angehörigen von Minderheiten verheerende Auswirkungen.  Von der einstigen ethnisch-religiösen Vielfalt des Irak ist nicht viel übriggeblieben; diejenigen, die noch verblieben sind, kämpfen ums Überleben in einer ihnen gegenüber feindseligen Umgebung.

Die ezidischen Kurden können darauf hoffen, dass die kurdische Autonomieregierung und kurdische Parteien sich für sie einsetzen. Letztendlich aber hängt viel davon ab, ob die Eziden nach den Erfahrungen der Vergangenheit der Autonomieregierung vertrauen. Die militärischen Einheiten der Autonomieregierung, die Peschmerga, haben die Invasion des „IS“ in das ezidische Gebiet von Sindschar nicht aufhalten können. Eziden, die nicht rechtzeitig fliehen konnten, zogen sich in die unzugänglichen Teile der Sindschar Berge zurück. Dort hätten sie nicht lange überleben können, wenn ihnen nicht die Kämpfer der kurdischen YPG (Volksverteidigungseinheiten) aus dem angrenzenden Nordost-Syrien zur Hilfe geeilt wären. Unter dem Schutz der YPG Kämpfer konnten die im Gebirge eingeschlossenen Eziden nach Syrien oder ins kurdische Autonomiegebiet gelangen.

Auch nach der Zerschlagung des „IS“ leben viele Eziden weiterhin in Flüchtlingslager. Damit sie in ihre Dörfer zurückkehren und diese wieder aufbauen können, sind auf Hilfe angewiesen.  Angesichts der großen Dimension der Flüchtlingstragödie im Nahen Osten und anderen Teilen der Welt, sind die zur Verfügung stehenden Mittel von internationalen Hilfsorganisationen für die Versorgung von so vielen notleidenden Menschen völlig unzureichend. Wenn es um kleine, für „strategische Interessen“ des Westens bedeutungslose Gemeinschaften geht, dann  sind die Aussichten auf Hilfe noch geringer. Deshalb ist es wichtig, dass die Eziden in der Diaspora die notleidenden Angehörigen ihrer Gemeinschaft in Mesopotamien unterstützen.

Die Entwicklung dort ist letztendlich auch wichtig für die ezidische Diaspora. Wie jede in der Diaspora lebende Gemeinschaft werden auch sie mit der Frage der Assimilation konfrontiert. Die Bewahrung der ezidischen Identität in der Diaspora ist langfristig nur möglich, wenn in Mesopotamien die ezidische Gemeinschaft und ihre Institutionen überleben und sich entwickeln. Wenn die religiösen und kulturellen Wurzeln der Gemeinschaft in Mesopotamien vernichtet werden, wird es unweigerlich negative Auswirkungen auf die Diaspora haben.

Haben die Minderheiten eine Zukunft im Irak?

Die Assyrer, Chaldäer und Syrer (auch Aramäer genannte syrisch-orthodoxe Christen) sind ebenfalls auf das Wohlwollen der kurdischen Autonomieregierung angewiesen. Sicherheit und Schutz gibt es nur im Autonomiegebiet; dessen Zukunft ist allerdings noch ungewiss. Die kurdische Regierung in Erbil und der Zentralregierung in Bagdad können sich über die Zugehörigkeit des umstrittenen Gebiets von Kirkuk nicht einigen. Im September 2017 hat sich die Bevölkerung des Autonomiegebiets in einem Referendum mit 92% für die Unabhängigkeit ausgesprochen. Es ist weiterhin völlig offen, wie der Konflikt zwischen Erbil und Bagdad gelöst wird.

Damit die stark zusammengeschmolzene christliche Bevölkerung weiterhin eine Perspektive in Mesopotamien hat, müsste sich auch ihre ökonomische Lage verbessern. Sicherlich könnten dazu die bereits seit längerer Zeit in der Diaspora lebenden Assyrer, Chaldäer und Syrer einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie beim Aufbau der zerstörten Dörfer helfen. Es ist wichtig, dass die ländliche Bevölkerung in der Ninive-Ebene, die bei der Invasion des „IS“ in die Städte im Autonomiegebiet floh, wieder in die Dörfer zurückkehrt. Denn wenn die geflüchteten Christen nicht wieder in ihre Dörfer zurückkehren, dann würde es die Aufgabe ihres letzten noch verbliebenen historischen Siedlungsraums bedeuten. Die christliche Minderheit wäre dann beschränkt auf wenige urbane Zentren, wo sie dann meist abgegrenzt in eigenen Stadtteilen leben würde.

Die Vernichtung Reste der Assyrer, Chaldäer und Syrer (Aramäer) in Mesopotamien würde ebenfalls schwerwiegende Auswirkungen auf die Diaspora dieser Gemeinschaften haben. In Europa, Australien oder in Amerika ist der Assimilationsdruck auf sie sehr groß. Im Nahen Osten lebten sie meist in eigenen Dörfern oder Stadtteilen abgegrenzt von der sie umgebenden muslimischen Bevölkerung. Die Religionsgrenzen erlaubten nur einen begrenzten Austausch zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Diese Grenzen existieren in der westlichen Diaspora nicht mehr, jedenfalls nicht für die orientalischen Christen,  deren Kirchen sich teilweise von den Hauptkirchen in der westlichen Welt unterscheiden.

Mesopotamien als Bezugspunkt für die Diaspora

Die Erhaltung der ethnisch-religiösen und kulturellen Identität in der Diaspora hängt auch davon ab, ob der in Mesopotamien verbliebene Teil der Gemeinschaft dort überlebt. Wird das religiös-kulturelle Erbe im ursprünglichen Siedlungsraum vollständig zerstört, dann wird die Diaspora ihre Identität langfristig kaum bewahren können. Deshalb liegt es im eigenen Interesse der Diaspora, dass ein möglichst großer Teil der Gemeinschaft in der ursprünglichen Heimat bleibt und das gemeinsame Erbe dort bewahrt.

Die Diaspora muss sich verstärkt für Frieden, Sicherheit und ein gleichberechtigtes Leben für die ethnisch-religiösen Minderheiten im Irak einsetzen. Sie muss zugleich auch die jeweilige Öffentlichkeit über die Probleme ihrer Gemeinschaft aufklären. Gerade in einer Zeit, in der sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit mehr auf die großen „globalen Herausforderungen“ richtet, ist es notwendig, über die unbekannten „regionalen“ Verbrechen aufmerksam zu machen, die an Minderheiten verübt werden. „Wenn das kein Völkermord ist, was ist es dann?“, fragte der chaldäische Erzbischof Habib Nafali in einem Interview.[5]

Bevor im März 2003 eine – von „christlichen“ Staaten angeführte – Militärkoalition den Krieg gegen den Irak startete, lebten dort 1,5 Millionen Christen. Innerhalb von 15 Jahren ging diese Zahl zurück auf nur noch 250.000. Wenn es nicht gelingt, in Mesopotamien Verhältnisse zu schaffen, in denen die Minderheiten in Frieden, Sicherheit und Gleichberechtigung leben können, werden sich eines Tages wahrscheinlich nur noch Ethnologen und Historiker an die Mandäer und andere kleine ethnisch-religiöse Gemeinschaften erinnern. Soll der Geschichte vom letzten Mohikaner die Geschichte vom letzten Mandäer folgen?

Toros Sarian

[1] https://www.nzz.ch/international/vor-den-arabern-habe-ich-mehr-angst-als-vor-den-jihadisten-1.18380396

[2] https://www.audiatur-online.ch/2018/10/31/die-ausloeschung-der-christlichen-minderheit-im-irak/

[3] https://www.deutschlandfunk.de/die-mandaeer-das-religioese-erbe-von-johannes-dem-taeufer.886.de.html?dram:article_id=337759

[4] https://minorityrights.org/minorities/kakai/

[5] https://cruxnow.com/church-in-asia-oceania/2018/10/09/iraqi-archbishop-fears-more-persecution-says-is-went-underground/