Yerevan

Mordparagraph 301

Für den Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink seien diejenigen verantwortlich, die den Paragraphen 301 geschaffen haben, sagte der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Ähnlich äußerte sich der bekannte Kolumnist Mehmet Ali Birand. Auf der Trauerkundgebung in Istanbul trugen viele Teilnehmer Plakate mit der Aufschrift „Mordparagraph 301“. Dieser stellt die „Beleidigung des Türkentums“, der Republik sowie der Organe und Einrichtungen des Staates“ unter Strafe. Hrant Dink war der Einzige, der aufgrund dieses Paragraphen rechtskräftig zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt wurde – aus der Sicht faschistischer Kreise eine viel zu milde Strafe.

Bereits 2004 hatte die EU eine Reform des aus dem Jahre 1923 stammenden türkischen Strafrechts gefordert. Im Juni 2005 trat dann das neue Gesetzeswerk in Kraft: Strafen für Folter wurden verschärft, Völkermord, Menschenhandel und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden neu ins Strafrecht aufgenommen. Auch Vergewaltigung in der Ehe sowie sexuelle Belästigung wurden strafbar. Günter Verheugen (SPD), der für die EU-Erweiterung verantwortliche Kommissar, lobte das neue Strafgesetz als „Jahrhundertwerk“. Jetzt sei der Rechtsstaat gestärkt und die Meinungsfreiheit geschützt.

Die türkischen Journalistenverbände waren da ganz anderer Meinung, denn das angebliche Jahrhundertwerk enthält auch einige Paragraphen, die zu einer weiteren Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit führen. „Die Tage, wenn man von der Türkei als dem weltgrößten Gefängnis für Journalisten sprechen wird, liegen erst noch vor uns“, warnte der Vorsitzende des Journalistenverbandes, Oktay Eksi. In Brüssel fand diese Warnung kein Gehör. Nur wenige Monate nach der Einführung des neuen Strafrechts wurden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eingeleitet.

Die Hardliner in der Regierung Erdogan können mit dem reformierten Strafrecht genauso zufrieden sein wie die Militärs: Für die „Beleidigung des Staates und seiner Organe“ sowie die Verletzung der „fundamentalen nationalen Interessen“ sind Strafen von bis zu zehn Jahren Haft vorgesehen. In dem Kommentar zum Gesetzentwurf wurde schon deutlich, worauf die Strafbestimmung Anwendung finden sollte: Strafbar könnte sich danach machen, wer behauptet, es habe einen Völkermord an den Armeniern gegeben. Und die Forderung nach Abzug der türkischen Besatzungstruppen aus Nordzypern wird als Verstoß gegen die „fundamentalen nationalen Interessen“ betrachtet.

Der Paragraph 301 sorgte schon bald für Aufsehen, weil er reaktionären Staatsanwälten die Möglichkeit bot, unliebsame Intellektuelle mit Prozessen einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen. Hrant Dink, Orhan Pamuk und Elif Shafak sind seine prominentesten Opfer. Alle drei wurden wegen Äußerungen im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Armeniern angeklagt. In Gang gebracht wurden die Prozesse durch Kemal Kerincsiz, einen nationalistischen Rechtsanwalt.

Für Unmut hatte Hrant Dink bereits 2002 gesorgt, als er kritisierte, dass die Schulkinder jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn den Text der türkischen Hymne sprechen müssen. Darin ist vom Stolz auf die Zugehörigkeit zur „heroischen Rasse“ die Rede; zudem enthält die Hymne den diskriminierenden Satz „Glücklich ist, wer sich Türke nennt.“

Als die Haftstrafe gegen Hrant Dink im Juli 2006 durch das höchste Berufungsgericht bestätigt wurde, zeigte sich EU-Kommissar Olli Rehn enttäuscht. Er forderte, dass die türkischen Behörden den Paragraphen 301 dringend ändern müssten, um die Meinungsfreiheit zu garantieren. Über 400 Intellektuelle, PublizistInnen, AnwältInnen und MenschenrechtsaktivistInnen protestierten in einer großen Anzeigenkampagne gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit. „Ich werde nicht schwiegen“, sagte Hrant Dink nach der Entscheidung des Berufungsgerichts. Er wollte das Urteil vor dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg anfechten.

Die Unbeugsamkeit des unter den türkischen Nationalisten verhassten Armeniers hat dann diejenigen auf den Plan gerufen, die sich für die kaltblütige Hinrichtung der Feinde des „Türkentums“ zuständig fühlen. Was der Paragraph 301 nicht erreichen konnte, besorgten schließlich die faschistischen Killer, in diesem Fall eingeflogen aus der Schwarzmeerstadt Trabzon. Nach seiner Verhaftung posierte der mutmaßliche Mörder mit der türkischen Fahne und flankiert von zwei Polizisten vor der Kamera. Nichts konnte die Verantwortung des türkischen Staates für den Mord augenscheinlicher dokumentieren als diese Aufnahme. Nationalistische Fernsehsender präsentierten den Mörder als Nationalhelden, der die Bewährungsstrafe des Gerichts in eine Todesstrafe umgewandelt hatte – weil nur so die „Ehre der Türken“ wieder hergestellt werden konnte. Auf die eindrucksvolle Trauerkundgebung in Istanbul folgte die nationalistische Gegenwelle: „Wir sind Türken, wir sind Mustafa Kemal“, lauten seitdem die Parolen. Am liebsten hätten die faschistischen Anwälte und Staatsanwälte die 100.000 Menschen, die zumindest für einen Tag ArmenierInnen sein wollten, allesamt wegen „Beleidigung des Türkentums“ angeklagt.

Mörder wird zum Nationalhelden

In der Türkei herrsche eine „Lynch-Kultur“, beklagte die Bestsellerautorin Elif Shafak. Die in Straßburg geborene Tochter einer türkischen Diplomatin gehört ebenfalls zu den Opfern des Paragraphen 301. In Shafaks Roman „Vater und Hurenkind“ fanden die aufmerksamen Wächter des „Türkentums“ einen Satz, der ihnen für eine Anklage reichte: „Ich stamme aus einer Familie, deren gesamte Verwandtschaft 1915 von den Türken abgeschlachtet worden ist, ich habe gelernt, meine Herkunft zu verleugnen, und mir wurde beigebracht, dass es keinen Völkermord gegeben hat“, so die Worte einer Romanfigur. Der Richter stellte das Verfahren allerdings ein, weil er keine Beweise für eine Straftat erkennen konnte.

Auch Orhan Pamuk, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und Literaturnobelpreisträger, kam wegen „Beleidigung des Türkentums“ vor Gericht. Gegenüber einer schweizerischen Zeitung hatte er gesagt: „Man hat hier 30.000 Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier. Und fast niemand traut sich, das zu erwähnen.“ Der Prozess gegen Orhan Pamuk sorgte für viel Wirbel. So beobachtete eine Delegation des Europäischen Parlaments das Verfahren. Selbst deren Mitglieder waren vor der aufgebrachten Menge türkischer Faschisten nicht sicher; der frühere britische Europaminister Denis MacShane erklärte, er sei beim Betreten des Gerichtssaals geschlagen worden und werde deshalb Beschwerde einreichen. EU-Kommissar Olli Rehn erklärte den Prozess gegen Pamuk zum Lackmustest für die Türkei: Es sei eine Gelegenheit, einen positiven Präzedenzfall zu schaffen. Tatsächlich wurde das Verfahren gegen Pamuk später eingestellt, denn eine Verurteilung hätte die bevorstehende Entscheidung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen möglicherweise negativ beeinflusst. Shafak und Pamuk kamen also glimpflich davon. Hrant Dink, der Armenier, aber nicht.

Das türkische Strafgesetzbuch enthält zahlreiche Paragraphen, die harmloser klingen und weniger bekannt sind als der Paragraph 301, die aber ebenfalls zur Kriminalisierung von kritischen Intellektuellen und JournalistInnen dienen. Unangenehme Erfahrungen mit der türkischen Justiz hat auch der Verleger Ragip Zarakolu gemacht. In seinem Verlag sind die meisten der Bücher zum Thema Armenien und Völkermord erschienen. Das Tagebuch eines Armeniers, der die Zerstörung der Hafenstadt Izmir miterlebte, bescherte Zarakolu genauso eine Anklage wie das Buch eines armenischen Autors, der in England lebt. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft werden in diesen beiden Büchern die Republik und ihr Gründer Mustafa Kemal Atatürk beleidigt. Ragip Zarakolu, der zum Freundeskreis Hrant Dinks gehört, zählt derzeit zu den am meisten bedrohten Intellektuellen.

Sicher werden nach dem Mord an Hrant Dink die Forderungen nach einer Abschaffung des Paragraphen 301 lauter werden. Erdogan wird diesem Druck, der vor allem aus Brüssel kommen wird, aber nicht einfach nachgeben können – in der Türkei stehen dieses Jahr wichtige Wahlen bevor, und diese sind nicht mit den Stimmen der 100.000 zu gewinnen, die am Trauermarsch für den ermordeten armenischen Journalisten teilgenommen haben. Doch selbst eine völlige Abschaffung des Paragraphen 301 und anderer Paragraphen, die die Meinungs- und Pressefreiheit einschränken, bietet keine Gewähr dafür, dass die politischen Morde ein Ende finden.

Wie der Chefredakteur der linksliberalen Tageszeitung Radikal feststellte, war der Mord an Hrant Dink ein „rassistisches Verbrechen“: „In erster Linie haben sie Hrant Dink umgebracht, weil er Armenier war, und erst in zweiter Linie deshalb, weil er anders dachte als sie.“ Auch Yasar Kemal, der wohl berühmteste Autor der Türkei, der sich in letzter Zeit auch politisch zu Wort meldet, nannte mit ungewohnter Deutlichkeit das eigentliche Problem beim Namen: „In der Türkei herrscht Rassismus wie in kaum einem anderen Land der Welt.“

Dieser Rassismus wird auch durch einige Änderungen des Strafgesetzbuches nicht einfach aus der Welt zu schaffen sein. Dafür bedarf es tief greifender gesellschaftlicher und politischer Veränderungen, und diese müssen völlig unabhängig von der Frage eines EU-Beitritts stattfinden. Ob ausgerechtet der Tod eines Armeniers den Anstoß dafür geben kann, ist fraglich.

Toros Sarian