Die Landtagswahl in Thüringen hat zu einer komplizierten Konstellation geführt. Trotzdem war Ramelow sich sicher, eine Minderheitsregierung bilden zu können. Der Führer des völkisch-nationalen Flügels der AfD ließ sich aber die Chance nicht entgehen, um den überraschend im dritten Wahlgang ins Rennen eingestiegenen FDP-Politiker Kemmerich zum Ministerpräsidenten zu wählen. Das brachte das ganze politische Gefüge in Deutschland ins Wanken. Während die CDU noch vor Kurzem mitleidig auf die arg ins Trudeln geratene SPD schaute, befindet sie sich gegenwärtig selbst in der wohl schwersten Krise ihrer Geschichte.
Höcke lässt sich von seinen Anhängern als raffinierter Taktiker feiern. Das von ihm ins Rollen gebrachte politische Chaos hat eine Debatte über die zukünftige Haltung der bürgerlichen Parteien gegenüber der AfD entfacht. Egal, wie sie verlaufen wird, Höcke und die AfD werden die Gewinner der Entwicklung sein. Nachdem die CDU – zumindest in Thüringen – ihre harte Linie gegenüber der „Linken“ aufgegeben hat, werden sich diejenigen in der Partei bestätigt fühlen, die sich schon lange über eine „linke“ Tendenz in der CDU beklagen. Welche Folgen das Desaster in Thüringen für die bürgerlichen Parteien haben wird, ist schwer absehbar; aber klar ist, dass sie sich in einer Zwickmühle befinden.
Zerreißprobe für die Mitte
Es ist nach dem Debakel in Thüringen deutlich geworden, dass die gesellschaftlich-politische Mitte vor einer ernsthaften Zerreißprobe steht. Die Mitte bildet das Fundament des Staates und der Nachkriegsordnung in Deutschland, sie bildet zugleich die Basis der CDU/CSU. Der Niedergang der SPD als „Volkspartei“ ist insofern keine Tragödie für das politische Gefüge Deutschlands, weil sich die Grünen der CDU/CSU als neuer Regierungspartner anbieten. Dies wäre vor 10-20 Jahren kaum denkbar gewesen. Die Grünen als der liberal-ökologisch orientierte Teil der Mittelschicht – insbesondere in den Ballungszentren – ist inzwischen ein möglicher Koalitionspartner der traditionellen Parteien der Mitte. Die AfD wird die CDU/CSU vor eine unangenehme Wahl stellen: entweder akzeptiert sie die AfD als neuen Bündnispartner oder sie landet in den Armen der SPD und der Grünen. Dadurch kann die AfD den mehr national-konservativ orientierten Teil der CDU/CSU-Wählerschaft auf ihre Seite ziehen und so den Druck auf die CDU erhöhen.
Die politische und gesellschaftliche Polarisierung und Konfrontation, die vor allem auf die gesellschaftliche Mitte abzielt, ist Teil der AfD Strategie. Am konsequentesten und skrupellosesten wird sie von Höcke verfolgt. Wenn die AfD ihren Stimmanteil bei den angekündigten Neuwahlen im Frühjahr 2021 halten oder sogar ausbauen kann, während gleichzeitig die CDU noch weiter abstürzt, dann hätte Höcke einen weiteren Etappensieg errungen. Eine Regierung aus „Linken“ und der SPD wäre das, was man als eine „Volksfrontregierung“ bezeichnen könnte. Eine solche „rote Regierung“ würde zu einer weiteren politischen Polarisierung beitragen, die aber von den Grünen, der SPD und auch den „Linken“ sicherlich nicht angestrebt wird.
Das Problem der CDU ist somit größer als das der SPD. In Bremen ist mit der Bildung einer Koalitionsregierung mit Beteiligung der Linken klar geworden, dass rot-rot-grüne Regierungsbündnisse auch in westlichen Bundesländern möglich sind. Wenn sich die Linie von Ramelow, Bartsch und anderen in der Führung der Partei durchsetzt, stünde einer rot-rot-grünen Bundesregierung nichts im Wege. Während also links von der Mitte eine solche Regierungsperspektive vorhanden ist und vor allem von der Linkspartei angestrebt wird, stellt sich für die CDU die Frage, welche Bündnisoptionen sie noch hat. Solange eine Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen bleibt, kann sie gar nichts anderes machen, als mit einer der anderen mehr oder weniger linken Parteien zu koalieren, denn nur mit der FDP kann sie keine Regierung bilden.
Im Vergleich zu einer Koalition mit der SPD würde eine Regierungskoalition mit den Grünen und der FDP – oder nur mit den Grünen – weitaus problematischer werden. Die Grünen haben zudem die Option auf ein Bündnis mit der SPD und der Linkspartei. Obwohl auch die SPD und die Linke Wähler an die AfD verloren haben, ist die AfD vor allem für die CDU ein großes Problem: Im Wählerpool der letzten verblieben „Volkspartei“ kann die AfD noch einige Stimmen herausfischen – vor allem in den östlichen Bundesländern. Und: Eine Regierungsbeteiligung der AfD ist nur mit Unterstützung von Parteien der Mitte möglich. Gegenwärtig ist dies nicht möglich, aber ob es auch so bleiben wird, ist eher ungewiss.
Aus der Geschichte gelernt?
Der Historiker Höcke kennt die Methoden, mit denen die Hitlerfaschisten die Macht „ergriffen“ hatten. Die Frage ist, ob auch die Politiker der bürgerlichen Parteien, die ihn als Nazi bezeichnen, gelernt haben, wie es zu der „Machtergreifung“ kam. Die Rolle der Zentrumspartei und von Zentrumspolitikern wie Heinrich Bürning und Franz von Papen dabei gespielt haben, ist ein Kapitel deutscher Geschichte, über das heute ernsthaft nachgedacht werden sollte. Den Hitlerfaschismus zu unterschätzen war ein fataler Fehler der damaligen bürgerlichen Parteien. Sobald die Faschisten sich der Unterstützung eines Teils der bürgerlichen Mitte gesichert hatten, war ihre „Machtergreifung“ nicht mehr aufzuhalten.
Die „Roadmap“ der AfD sieht heute nicht wesentlich anders aus. Wenn es ihr gelingt, einen Teil der bereits schwankenden und verunsicherten Mitte auf ihre Seite zu ziehen, dann kann die politische Waagschale schnell nach ganz rechts kippen. Ob die CDU als „Volkspartei der Mitte“ sich dieser Gefahr bewusst ist und konsequent dagegen etwas unternehmen wird, erscheint zweifelhaft.