Abchasien

Völkermordleugnung und deutsche Linke

Die anfänglichen Hoffnungen, dass in Deutschland mit der Gründung der PDS eine Partei an die Tradition der von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht verkörperten Vorstellung vom demokratischen Sozialismus anknüpfen könnte, sind längst verflogen. Wie in anderen Parteien auch, begünstigen die Strukturen und Mechanismen des Parteiapparats den Aufstieg von Karrieristen und Opportunisten, die es auf Mandate, Ämter und Ministerposten abgesehen haben. Um die Entwicklung und die vorherrschende Mentalität in der Linkspartei besser erkennen und verstehen zu können, muss man sich anschauen, wer eine Schlüsselrolle in dem Partei genannten System spielt und in Zukunft spielen wird. Hier soll eine Person näher betrachtet werden, die in den vergangenen Jahren deutlich an Einfluss gewonnen hat und erster „linker“ Ministerpräsident eine Landesregierung leitet: Bodo Ramelow.

Protestantische „Herkunftsfamilie“ mit Wappen und Siegel

Im Straßenverkehr ist die Überholspur links. Der aus dem kleinen niedersächsischen Ort Osterholz-Scharmbeck stammende Ramelow dachte vermutlich, dass auch er im Leben sicherlich schnell vorankommen könnte, wenn er sich der Linken anschließt. Seine Entscheidung war goldrichtig: Der Einzelhandelskaufmann und spätere Filialleiter bei der Jöckel Vertriebs GmbH Marburg wurde 1999 Landtagsabgeordneter in Thüringen, 2005 Bundestagsabgeordneter und Vizefraktionschef. Die jetzige Station seiner Karriere ist der Posten des Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen. Es heißt, in den USA könne auch ein Tellerwäscher zum Millionär werden; auch in Deutschland sind erstaunliche Karrieren möglich, vor allem in der Politik. Für manche Parteimitglieder heißt das Motto: „Von Ramelow lernen, heißt siegen lernen“.

Der „Wessi“ Ramelow war weitsichtig, er hat sich frühzeitig nach Ostdeutschland orientiert, wo nicht nur die Linkspartei stark ist, sondern auch der Protestantismus seine Ursprünge hat. Das scheint für den erfolgreichsten Aufsteiger der Linkspartei auch wichtig: „Wie meiner Biografie zu entnehmen, entstamme ich dieser alten, protestantischen Familie“, teilt der Ministerpräsident des Freistaats Thüringen den Besuchern*innen seiner Homepage mit. Ausführliche Informationen über seine „Herkunftsfamilie“ enthalten eine 2 MB großen PDF zum Herunterladen.[1] Abbildungen von Wappen und Siegel belegen, wie bedeutsam die frommen Ahnen des linken Politikers waren. Im 18. Jahrhundert versuchte einer von ihnen, „jüdische Mitbürger zu bekehren, auch agierte er wiederholt gegen die katholische Geistlichkeit in seiner Umgebung (vor allem in Erbes-Büdesheim)“.

Als seine Idole nennt Ramelow nicht etwa Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, sondern Mahatma Gandhi und Nelson Mandela. Insgeheim ist vermutlich auch der Initiator der Reformation, Martin Luther, sein Idol, aber als Mitglied der Leo Baeck Stiftung und der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) hielt er es wohl nicht für opportun, den Judenhasser Martin Luther zu erwähnen.[2] An den Reformator erinnerte sich Hitler voller Bewunderung: „Luther war ein großer Mann, ein Riese. Mit einem Ruck durchbrach er die Dämmerung, sah den Juden, wie wir ihn erst heute zu sehen beginnen.“[3]

Eine folgenreiche Nominierung für den Bundestag

Deborah E. Lipstadt beschreibt in ihrem Werk „Leugnen des Holocaust. Rechtsextremismus mit Methode“, wie Holocaustleugner versuchen, Zweifel an der  Faktizität des Holocaust zu schüren und Akzeptanz für ihr eigenes Geschichtsbild zu verschaffen.[4] Leugner des Völkermordes an den Armeniern haben viele der Argumentationsmethoden von Holocaustleugnern übernommen. Unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit versuchen sie ihre Lügen als die „türkische Sicht“ darzustellen. Die „Bereitschaft, die Märchen der Holocaust-Leugner zu legitimen Meinungsäußerungen zu erklären“, so Deborah Lipstadt, „bildet einen ebenso großen, wenn nicht größeren Grund zur Besorgnis wie die konkreten Aktivitäten der Holocaust-Leugner“. Ein Beispiel dafür, dass die Besorgnis berechtig ist, zeigt der leider vergessene oder verdrängte Vorfall, dessen erster Akt sich 2005 und der folgende 2006/07 abspielte.

Als es um die Nominierung von Kandidaten für die Bundestagswahl 2005 ging, brachte der damalige Parteichefs Bisky den in Hamburg lebenden Professor Hakki Keskin ins Spiel. Der Mitbegründer und langjährige Vorsitzende der „Türkischen Gemeinde Deutschlands“, langjähriges Mitglied der SPD und von 1993-97 Abgeordneter in der Hamburgischen Bürgerschaft, war innerhalb linker Kreise als Nationalist, Lobbyist der Interessen des türkischen Staates und Leugner des Völkermords an den Armeniern bekannt. Der damalige Parteichef Biskys ignorierte sowohl die Bedenken vieler seiner Genossen*innen als auch die Proteste von Armeniern in Deutschland. Keskin, dessen Nominierung in Hamburg abgelehnt wurde, bewarb sich in einem Kreisverband in Berlin, dessen Mitglieder dem Wunschkandidaten ihres Parteichefs den Weg in den Bundestag ebneten. Ende 2006 kam es erneut zu einer Auseinandersetzung um Hakki Keskin, weil der Zentralrat der Armenier in Deutschland gegen die wiederholte Völkermordleugnung protestierte. Die Verteidigung des türkischen Genossen übernahm der Aufsteiger aus Osterholz-Scharmbeck.

Die ganze Dimension der perfiden Argumentation des „linken“ Politikers bei der Auseinandersetzung 2006/07 wurde von vielen leider nicht erkannt. Manche erkannten es zwar, aber schwiegen, weil die Partei- und Fraktionsführung hinter Ramelow stand. Als Jörg Fischer in einem auf der jüdischen Webseite Hagalil.com[5] veröffentlichten Artikel die Haltung der PDS kritisierte, erhielt er am 4. Januar 2007 eine Mail aus dem Büro Ramelow: „Herr Ramelow hat mich gebeten, Ihnen bezüglich Ihres Artikels „PDS droht weiter ins Zwielicht zu geraten: Zwischen Genozid-Leugnern und Genozid-Planern“ auf hagalil.com diese E-Mail zu schreiben.“ In der Mail heißt es weiter: „Der Genozid an den Armeniern hat eine Vor- und eine Nachgeschichte. Heute geht es aber weder darum Tote gegeneinander aufzurechnen, noch soll bestritten werden, dass die armenische Seite deutlich größeres Leid erfuhr. Die Ereignisse des gesamten Zeitraums müssen objektiv, für beide Seiten nachvollziehbar geklärt werden. Das geht nur gemeinsam, denn leider gibt es in der Geschichtsforschung neben klar belegten Tatsachen auch immer Raum für Interpretationen.“

Ramelows Mitarbeiter Frank Schencker schrieb wenige Tage später, am 7. Januar 2007, auch an den Zentralrat der Armenier in Deutschland: „Herr Ramelow möchte betonen, dass kein Abgeordneter der Linksfraktion je das unermessliche Leid der armenischen Bevölkerung in Frage gestellt hat oder je in Frage stellen würde. Es bleibt aber die Frage offen, wie die stattfindenden historischen Erkenntnisprozesse als Grundlage für einen zivilisatorischen Versöhnungsprozess genutzt werden können.“ Statt einer klaren Distanzierung oder Verurteilung des Völkermordleugners in der Linksfraktion, wurde versucht, die Debatte auf angeblich noch bestehende „offene Fragen“ zu lenken. Das war eine zynische Provokation der Nachkommen von Überlebenden des Völkermords, die seit über 100 Jahren darauf warten, dass die Türkei das Verbrechen endlich anerkennt. Bemerkenswert ist, dass die wahnwitzige Argumentation Ramelows bei der Verteidigung eines Völkermordleugners weder bei Bisky noch Gysi auf Kritik stieß.

Welche Vorgeschichte?

Die Relativierung eines Völkermords kann verschiedene Formen annehmen. Es kann sein, dass jemand die Faktizität eines Völkermords nicht bestreitet, aber zugleich versucht, sie zu relativieren, zu verharmlosen, oder zu verlangen, die Geschichte in einem bestimmten Kontext mit seiner „Vor- und Nachgeschichte“ zu betrachten. In der Mail an Jörg Fischer wird suggeriert, dass es bei der Beurteilung der Frage weiterhin noch wichtige Punkte gibt, die bislang nicht berücksichtigt wurden. Vor allem der Hinweis auf eine „Vorgeschichte“ kann auch so gedeutet werden, dass das Vorgehen der türkischen Regierung aus bestimmten Gründen und aufgrund der damaligen Umstände berechtigt gewesen sein könnte. Somit wird zwar nicht offen, aber unterschwellig die Faktizität des Völkermords infrage gestellt. Ramelows Position, wie sie von seinem Mitarbeiter in den Mails an Jörg Fischer und den ZAD filigran formuliert wurde, auch als eine lediglich bedingte Anerkennung des Völkermords betrachtet werden. Das Verbrechen wird zwar – wie Radio Eriwan sagen würde – im Prinzip anerkannt, aber es wird gleichzeitig auch eine Art Grauzone geschaffen, in der Völkermordleugnung toleriert wird.

Leugner des Völkermords an den Armeniern weisen stets auf die „Vor- und Nachgeschichte der Ereignisse von 1915“ hin. Dadurch versuchen sie eine Debatte anzufachen, in der sie als „die andere Seite“ teilnehmen und ihre Argumente vortragen können. Jeder Völkermord hat eine Vorgeschichte: zur Vorgeschichte des Völkermords an den Armeniern gehört die über 500-jährige türkisch-islamische Herrschaft, die mit Unterdrückung, Ausbeutung, Diskriminierung, Landraub, Enteignung, Zwangsislamisierung, Raub von Frauen und Kindern und Vertreibung verbunden ist. In ihrer Schrift „Nationale Kämpfe in der Türkei und die Sozialdemokratie“ schreibt Rosa Luxemburg: „Der Christ ist in seinen Rechten zurückgesetzt, sein Eid gilt nichts gegen einen Mohammedaner, er darf keine Waffe tragen, er kann in der Regel kein öffentliches Amt bekleiden. Was noch wichtiger aber – er sitzt oft als Bauer auf dem Grund und Boden eines mohammedanischen Grundbesitzers und wird von mohammedanischen Beamten ausgesaugt. Auf dem Grunde liegt also vielfach ein Klassenkampf – ein Kampf des Kleinbauern und Pächters mit der Grundbesitzer- und Beamtenklasse“.[6]

Als sich die armenischen Bauern gegen Ende des 19. Jahrhunderts bewaffneten und Widerstand gegen die unerträgliche Ausbeutung und Unterdrückung leisteten, antwortete die Regierung mit Massakern. In der offiziellen türkischen Geschichtsdarstellung wird behauptet, die armenische Nationalbewegung sei von den europäischen Großmächten angestiftet und unterstützt worden, um die Türkei zu schwächen und ihre Aufteilung herbeizuführen. R. Luxemburg sah dies damals anders, sie schrieb: „Angesichts der sozialen Verhältnisse, die wir flüchtig skizziert haben, erscheinen die Behauptungen, die Aufstände und nationalen Kämpfe in der Türkei seien künstlich erzeugte Putsche der Agenten der russischen Regierung, als geradeso tiefsinnig wie die Behauptungen der Bourgeoisie, die ganze moderne Arbeiterbewegung sei das Werk einiger sozialdemokratischer Hetzer.“ Für die Sozialdemokratin war völlig klar, auf welcher Seite sich ihre Partei zu stellen hatte: „Die christlichen Nationen, gegebenenfalls die Armenier, wollen sich von dem Joch der türkischen Herrschaft befreien, und die Sozialdemokratie muß sich rückhaltlos für ihre Sache erklären.“

Zur Vorgeschichte des Völkermords gehören die Massaker in den Jahren 1894-96, denen mehr als 100.000 Armenier zum Opfern fielen. Unzählige Armenier traten „freiwillig“ zum Islam über, um zu überleben. Als Folge der Massaker flohen Hundertausende aus ihrer Heimat im Hochland von Armenien entweder nach Istanbul oder ins Ausland. Zu denen, die in die USA auswanderten, zählen auch die aus der Stadt Bitlis stammenden Eltern des berühmten amerikanischen Schriftstellers William Saroyan. Die Massaker von 1894-96 führten zu einer dramatischen Verringerung des armenischen Bevölkerungsanteils in den östlichen Provinzen des Osmanischen Reiches. Das bedeutete eine entscheidende Schwächung der jungen armenischen Nationalbewegung, die nie eine ernsthafte militärische Bedrohung für die Zentralregierung darstellte.

Weiteres Ereignis in der Vorgeschichte des Völkermords bildeten die Massaker in Adana und anderen Orten in Kilikien (Gebiet im Südosten der heutigen Türkei), denen 1909 etwa 30.000 Armenier zum Opfer fielen. Nach dem Sturz des Regimes von Sultan Abdul Hamid II. schien mit der Wiedereinführung der Konstitution die Grundlage für ein gleichberechtigtes Zusammenleben der verschiedenen Völker und Religionen geschaffen worden zu sein. Nach der „Revolution von 1908“ lösten die armenischen Parteien ihre wenigen bewaffneten Einheiten in den Bergen auf und unterstützten die neue Regierung. Sie vertrauten darauf, dass sie ihre Reformversprechen einhalten würde. Mit den Massakern in Adana zeichnete sich aber bereits ab, dass der immer stärker werdende türkische Nationalismus kein Interesse an Reformen hatte.

Im Frühjahr 1914, also wenige Monate vor Ausbruch des 1. Weltkriegs, wurde die griechische Bevölkerung an der Ägäis- Küste durch staatlich organisierten Terror zur Flucht nach Griechenland gezwungen. Die Vertreibung der Griechen aus dem südwestlichen Kleinasien bildete eine letzte Generalprobe für das, was nach dem Kriegseintritt des Osmanischen Reiches an der Seite Deutschlands folgen sollte: die organisierte, zentral gelenkte und systematisch durchgeführte Vernichtung der Armenier und der Raub ihres Eigentums. Durch den Transfer des fast vollständig in den Händen der christlichen Bevölkerungsgruppe befindlichen Kapitals an die türkisch-muslimische Elite, die traditionell den Regierungs-, Verwaltungs- und Militärapparat kontrollierte, entstand die „nationale Bourgeoisie“ des modernen türkischen Nationalstaats.[7] Die Akkumulation des türkisch-nationalen Kapitals spielte sich im Wesentlichen in dem relativ kurzen Zeitraum von 1914-1923 ab und erfolgte mit dem Völkermord an den Armeniern und Griechen.

Welche Nachgeschichte?

Die Geschichte der verbrecherischen Politik gegen die christlichen Völker des Osmanischen Reiches endete aber nicht mit der Gründung der Republik Türkei, sondern ging weiter. Über die „Nachgeschichte des Völkermords“ ist nur sehr wenig bekannt. Dabei bildete sie die konsequente Fortsetzung der türkisch-nationalistischen Politik nach 1908. Das war auch nicht anders zu erwarten, weil die Nationalbewegung unter Führung Mustafa Kemal Paschas fast vollständig aus ehemaligen Mitgliedern und Anhängern des „Komitees für Einheit und Fortschritt“ bestand. Ihre erste Aufgabe sah sie darin, den gewaltsamen Transfer des Kapitals und Eigentums ihrer Opfer zu legalisieren. Wie die türkischen Wissenschaftler Taner Akcam und Ümit Kurt in einer Untersuchung aufgezeigt haben, wurden in der Anfangszeit der türkischen Republik zahlreiche Gesetze geschaffen, die den Transfer des „Besitzerlosen Eigentums“ an ihre neuen Eigentümer rechtlich absicherte. Die Ermordeten waren schließlich Bürger des Osmanischen Reiches gewesen, also die „Mitbürger“ derer, die für den Völkermord und den damit einhergehenden Raub verantwortlich waren. Die neue türkisch-muslimische Bourgeoise, die sich am Eigentum der ermordeten Armenier und Griechen bereichert hatte, wollte schließlich nicht als Räuber oder Diebe dastehen.

Zur Nachgeschichte zählt auch das vergessene Pogrom gegen die Juden in Thrakien 1934, das zur vollständigen Vertreibung der dortigen jüdischen Minderheit führte.[8] Erwähnt muss auch die gewaltsame Unterdrückung des kurdischen Widerstands in den Jahren kurz nach der Gründung der Republik werden. Der Völkermord in Dersim 1938 bildete einen besonders blutigen Höhepunkt. 1943 führte die Regierung eine Sondersteuer für die nichtmuslimischen Unternehmer (Armenier, Griechen und Juden) ein, die „Vermögenssteuer“ genannt wurde. Wer sie nicht aufbringen konnte, musste zur Zwangsarbeit nach Erzurum. Während des 2. Weltkrieges verschärfte die türkische Regierung ihre rassistische Haltung nicht nur gegen Armenier und Griechen, sondern auch gegen Juden. So wurden z.B. alle 26 jüdischen Mitarbeiter der staatlichen Nachrichtenagentur „Agence d’Anatolie“ auf Anordnung von Ministerpräsident Saydam entlassen. Die nächste Etappe dieser Nachgeschichte bilden die Pogrome vom 6./7. September 1955 gegen Griechen und Armenier. Von den 250.000, die noch um das Jahr 1950 in Istanbul lebten, sind heute nur noch wenige Tausend übriggeblieben.

Die „Nachgeschichte des Völkermords“ bildet die Vertreibung der Reste der christlichen Bevölkerung durch Diskriminierung, Pogrome und Enteignung. Auch die Zerstörung ihres kulturellen Erbes und von unzähligen Kirchen und Klöstern gehört zur „Nachgeschichte des Völkermords“. Genaugenommen gehört dazu auch das Massaker an der alewitischen Bevölkerung von Marasch, der Krieg gegen die Kurden innerhalb und außerhalb der Türkei, die Zerstörung tausender kurdischer Dörfer, die über 17.000 Morde durch angeblich „unbekannte Täter“, die zu Tode gefolterten politischen Gefangenen und die Ermordung von Intellektuellen wie Musa Anter, Vedat Aydin, Hrant Dink oder Tahir Elcin. Das sind nur einige Stichpunkte zu der staatlich verdrängten und geleugneten „Nachgeschichte des Völkermordes“, die noch nicht beendet ist, denn auch die heutige Regierung setzt die altbekannte Politik der Unterdrückung und Gewalt fort – mit Duldung Deutschlands und anderer westlicher Staaten. Die deutsche Mitschuld an der verbrecherischen Politik des türkischen Staates setzt sich bis heute fort.

Deutsche und Armenier

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts vertraten deutsche Politiker und Intellektuelle rassistische Ansichten über Armenier. Zu ihnen zählte der evangelische Geistliche Friedrich Naumann, der 1898 Kaiser Wilhelm II. auf seiner Reise ins Osmanische Reich begleitete. Nur wenige Jahre zuvor, in den Jahren 1892-94, hatten dort Armenier-Massaker stattgefunden. In seinen „Reisebriefen“ lässt Nauman seine eigene Sicht über die „armenische Frage“ und die Armenier von einem fiktiven „deutschen Töpfermeister in Konstantinopel“ wiedergeben: „Ich bin ein Christ und halte die Nächstenliebe für das erste Gebot, und ich sage, die Türken haben Recht getan, als sie die Armenier totschlugen. Anders kann sich der Türke vor den Armeniern nicht schützen, von dem seine Noblesse, Trägheit und Oberflächlichkeit auf das unverantwortlichste ausgenutzt wird. Der Armenier ist der schlechteste Kerl von der Welt.“[9] Der evangelische Christ und liberale Politiker Naumann bezeichnete die Massaker von 1892-94 als „Notwehr der Türken“, eine „innertürkische politische Angelegenheit“ und als ein „Stück vom Todeskampf eines alten grossen Reiches, das sich nicht ohne letzte blutige Rettungsversuche will töten lassen“.

Karl May ist „einer der meistgelesenen Schriftsteller deutscher Sprache und laut UNESCO einer der am häufigsten übersetzten deutschen Schriftsteller. Die weltweite Auflage seiner Werke wird auf 200 Millionen geschätzt, davon 100 Millionen in Deutschland“.[10] In seinem Roman „Im Reiche des silbernen Löwen“ übernahm er teilweise wörtlich Passagen aus Naumanns „Reisebriefen“ und schrieb: „Der Armenier ist der schlechteste Kerl von der Welt. Er verkauft seine Frau, seine noch unreife Tochter, er bestiehlt seinen Bruder. Ganz Konstantinopel wird von den Armeniern moralisch verpestet. Nicht die Türken haben angegriffen, sondern die Armenier (…) Ein geordnetes Mittel, um sich gegen die Armenier zu schützen, gibt es nicht. Der Türke handelt in Notwehr!“ In seiner 1996/97 veröffentlichten Erzählung „Kys-Kaptschiji“ erfahren die Leser Karl Mays noch mehr Einzelheiten über die „schlechtesten Kerle der Welt“: „Ein Jude überlistet zehn Christen; ein Yankee betrügt fünfzig Juden; ein Armenier aber ist hundert Yankees über (…) Wo irgendeine Heimtücke, eine Verräterei geplant wird, da ist sicher die Habichtsnase eines Armeniers im Spiel. Wenn selbst der gewissenlose Grieche sich weigert, eine Schurkerei auszuführen, es findet sich ohne Zweifel ein Armenier, welcher bereit ist, den Sündenlohn zu verdienen.“[11]

Bereits vor dem Völkermord während des 1. Weltkriegs waren antiarmenische Klischees innerhalb der deutschen Eliten, insbesondere unter den Militärs, weit verbreitet. Dass sowohl deutsche Protestanten und Katholiken die Vernichtung eines christlichen Volkes durch ihre türkischen Verbündeten nicht nur gleichgültig hinnahmen, sondern als legitim und notwendig ansahen, belegt, wie sehr sie sich von imperialistischen Interessen statt von Solidarität mit den unterdrückten und verfolgten armenischen Christen leiten ließen. Es war der Sozialdemokraten Eduard Bernstein, der 1913 in seiner Rede im Reichstag auf die Mitschuld Deutschlands an die Massaker von 1894-96 erinnerte: „Die armenische Bevölkerung erstrebt keine Loslösung von der Türkei, sie verlangt nicht einmal provinzielle Autonomie. Ihre Forderungen sind so bescheiden wie nur möglich, und trotzdem sind sie nicht verwirklicht worden. Wer die Schuld daran trägt, dass sie nicht verwirklicht worden sind, das sind die beiden Länder Russland und Deutschland. Als in den 90er Jahren eine unerhörte Metzelei in Armenien stattgefunden hatte, als Metzeleien von Armeniern in Konstantinopel erfolgt waren, traten die Botschafter zusammen, und die Kabinette der Regierungen von Frankreich, England, den Vereinigten Staaten, von Österreich, von Italien hatten sich dahin geeinigt, die Türkei anzuhalten, endlich einmal die Bestimmungen des Berliner Vertrages, die sie übernommen hat, sinngetreu durchzuführen. Und wer hat damals den Widerstand Abdul Hamids unterstützt? Das war vor allem Dingen das Deutsche Reich. Das Deutsche Reich hat damals, um sich die Freundschaft der Türkei warmzuhalten, die Schuld an den weiteren Metzeleien auf sich geladen“[12]

Zu den wenigen Deutschen, die sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts für die Armenier einsetzten, zählte vor allem der evangelische Theologe Johannes Lepsius. Er war zwar auch ein Anhänger des Kaisers, aber die Politik der türkischen Regierung lehnte er entschieden ab. Sein Einsatz für die Armenier blieb erfolglos, denn für die Reichsregierung hatte die Fortsetzung des Bündnisses mit der Türkei Vorrang. Der aus Brandenburg stammende protestantische Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg notierte im Dezember 1915: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.[13]

Türkischer Nationalismus und die Armenier

Wenn bei Deutschen so ein Armenierbild verbreitet war, was dachten dann die türkischen Nationalisten Anfang des 20. Jahrhunderts über ihre armenischen Mitbürger*innen im Land? Über die rassistische Seite des türkischen Nationalismus war lange Zeit nur wenig bekannt. Selbst große Teile der türkischen Linken betrachteten den türkischen Nationalismus und insbesondere die kemalistische Bewegung als eine fortschrittliche, national-demokratische, antiimperialistische Kraft. Inzwischen gibt es sehr fundierte und kritische Untersuchungen, die nachweisen, dass der türkische Nationalismus eine starke rassistische Komponente hat, die bereits in ihrer Entstehungsphase deutlich erkennbar ist. Der als Professor für Osmanische Geschichte an der Princeton Universität tätige Mehmet Sükrü Hanioglu gibt in seinem Werk „Preparation for a Revolution. The Young Turks, 1902 – 1908“ einen tiefen Einblick in die rassistische Gedankenwelt führender türkischer Politiker, die mit der „jungtürkischen Revolution von 1908“ an die Regierungsmacht gelangten. Die türkisch-nationale Elite spielte nicht nur bei der „Revolution von 1908“ eine entscheidende Rolle, sondern auch nach der Gründung der Türkei.

In seiner Rezension des Buches von Hanioglu schreibt der Historiker Hans-Lukas Kieser: „Mit ruhiger Beharrlichkeit verfolgt er von Anfang bis Ende des Buches die These vom Türkismus als der «realen Kraft» des CUP (Komitee für Einheit und Fortschritt); ein Türkismus, der gekoppelt war mit Neid und Hass auf das monolithisch aufgefasste Europa – das die Jungtürken zugleich zur zivilisatorischen Richtschnur nahmen – sowie auf die Armenier, die mit Europa im Bund erschienen. Die reaktionäre (antiliberale, antisozialistische, anti-internationalistische) türkistische Ausrichtung habe ab 1905 zum raschen ideologischen Sieg über Sabahaddin bei der türkischen Bildungselite geführt. Hanioglu setzt sich mit seiner These in die Nesseln; die meisten Orientalisten datierten bisher die ethnonationalistische Ausrichtung des CUP auf den Vorabend des Ersten Weltkriegs; manche entschuldigten sie gleichsam als Reaktion auf virulente Nationalismen in den Balkankriegen (1912/13). Die internen CUP-Zeugnisse, die Hanioglu vorlegt, lesen sich schon kurz nach der Jahrhundertwende anders. Die beiden Militärärzte des Zentralkomitees betrachteten die Türken auf Grund ihrer rassischen und historischen Charakteristika als Herrenvolk. Wenn sie das Vielvölkerreich retten wollten, dann, um die Machtstellung der Türken innerhalb eines modernen, zentralistischen Systems zu restaurieren; die Wiedereinsetzung der Verfassung war rhetorisch und als Symbol des Fortschritts wichtig, inhaltlich jedoch bedeutungslos; der Islam spielte ebenfalls rhetorisch sowie als Element von Ethnizität, nicht aber inhaltlich eine zentrale Rolle. Hanioglu stellt ausführlich auch die bisher kaum bekannte Oppositionszeitschrift «Türk» vor, die 1902-06 in Kairo erschien und einen – wie sie beanspruchte – wissenschaftlichen, rassisch-darwinistischen Nationalismus vertrat; sie rief zum sozialen und wirtschaftlichen Boykott der Armenier auf, da diese bisher «auf unsere Kosten gelebt» hätten. Beiläufig weist er darauf hin, dass schon die CUP- Propaganda den von der Nationalbewegung nach dem Ersten Weltkrieg lancierten chauvinistischen Slogan «die Türkei den Türken» geprägt hatte.“[14] 

Die Mitglieder der türkischen Nationalbewegung unter Führung von Mustafa Kemal Pascha waren ebenfalls Anhänger der jungtürkischen Bewegung und sie setzten nach der Gründung der Republik Türkei extrem nationalistische Politik des „Komitees“ fort. Ismet Inönü, der enge Kampfgefährte und spätere Nachfolger M. Kemal Atatürks, sagte in einer Rede: „Allein die türkische Nation beansprucht mit Recht ethnische und rassische Rechte in diesem Land. Kein anderes Element hat dieses Recht.“ Mahmut Esat Bozkurt, der in der Schweiz Jura studiert hatte und Innenminister in der kemalistischen Regierung wurde, sah es genauso: „Diejenigen, die nicht rein türkischer Abstammung sind,“ so Bozkurt, „haben nur ein Recht in diesem Land: das Recht Knechte zu sein, das Recht Sklaven zu sein.“[15]

Kritiker der türkischen Staatsdoktrin werden ignoriert

Dass die „historischen Erkenntnisprozesse“ längst abgeschlossen sind, verdeutlichen vor allem zwei Dokumente: Am 24. April 1998 gedachten 150 international renommierte Wissenschaftler und angesehene Intellektuelle in einer gemeinsamen Erklärung an den Völkermord an den Armeniern und verurteilten die vom türkischen Staat fortgesetzte Leugnung des Verbrechens. Zu den Unterzeichnern zählten u.a. Yehuda Bauer, Norman Birnbaum Israel W. Charny, Helen Fein, Lawrence J. Friedman, Raul Hilberg, Daniel Goldhagen und Deborah E. Lipstadt. Am 7.März 2000 bekräftigten 126 Holocaust-Forscher in einer Erklärung, dass der Völkermord an den Armeniern eine unbestreitbare historische Tatsache sei, die von den westlichen Demokratien anerkannt werden sollte. Zu den Unterzeichnern der Erklärung zählten u.a. Saul Friedman, Zev Garbner, Irving Greenberg, Irving L. Horowitz und Elie Wiesel.[16]

Inzwischen hinterfragen immer mehr Türken die nationalen Paradigmen des türkischen Staates. Kritischen Wissenschaftlern*innen, Intellektuellen und Menschenrechtlern*innen haben in den vergangenen Jahren die verschiedenen Aspekte des Völkermordes an den Armeniern ausführlich untersucht, dabei Dokumente aus türkischen Archiven ans Tageslicht gefördert und einen wichtigen Beitrag für die wissenschaftliche Aufarbeitung des Verbrechens geleistet. Zu den türkischen Kritikern der offiziellen Geschichtsdarstellung zählen Taner Akçam, Sait Çetinoğlu, Doğan Özgüden, Ayşe Hür, Ayşe Günaysu und Eren Keskin, Fatma Müge Göçek, Ayhan Aktar, Nevzat Onaran, Serdar Korucu, Talat Ulusoy, Yektan Türkyılmaz und Ümit Kurt. Auch in Deutschland leben Türken, die gegen die Leugnungspolitik kämpfen und eine Anerkennung des Völkermords fordern. Vor allem der von Ali Ertem gegründete und geleitete „Verein der Völkermordgegner“ muss dabei hervorgehoben werden. Der als Hausmeister an einer Schule tätige Türke und andere Vereinsmitglieder reisen jedes Jahr nach Yerevan, um dort am 24. April gemeinsam mit Armeniern*innen der Opfer des Völkermords zu gedenken. Diese „türkische Seite“ ignoriert Ramelow; für ihn zählt die von seinem Genossen Keskin vertretene offizielle „türkische Darstellung“.

Für den türkischen Staat war es früher noch relativ einfach, die Kritiker seiner Geschichtsdarstellung als eine kleine Minderheit von linken „Verrätern“ zu diffamieren. Aber nach der Ermordung des armenischen Journalisten und Publizisten Hrant Dink, der am 19. Januar 2007 in Istanbul auf offener Straße hinterrücks erschossen wurde, ist die Ablehnung der staatlichen Leugnungspolitik gewachsen. Es sind nicht mehr nur einige linke Intellektuelle und Wissenschaftler, sondern auch liberale Intellektuelle mit einem kemalistischen Hintergrund. Ein prominentes Beispiel ist der Kolumnist Hasan Cemal, ein Enkel Cemal Paschas. Gemeinsam mit Talat Pascha und Enver Pascha bildete Cemal Pascha ein Triumvirat, das 1913 die Macht im Osmanischen Reich übernahm. Während des 1. Weltkriegs war er Marineminister und Gouverneur der arabischen Gebiete des Reiches. Die Deportation der Armenier endete in seinem Machtbereich im Nordosten Syriens. Hasan Cemal besuchte nicht nur die Völkermord-Gedenkstätte in Yerevan, sondern veröffentlichte zudem ein Buch mit dem Titel „1915: Der Völkermord an den Armeniern“.[17]

Die Kritik der offiziellen Geschichtsdarstellung ist inzwischen ein ernsthaftes Problem für den türkischen Staat. Es wird für sie immer schwieriger, die kritischen Intellektuellen und Wissenschaftler zum Schweigen zu bringen. Weil der Vorwurf vom „Westen“ gesteuert zu sein oder unter dem Einfluss der Armenier zu stehen an Wirkung verliert, werden neue Wege gesucht, um ihre Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Staatsnahe Wissenschaftler versuchen inzwischen auch, sie als einen besonderen Fall von psychisch gestörten Menschen darzustellen. Prof. Dr. Deniz Altınbaş schreibt in seiner Abhandlung mit dem Titel „Die Psychologische Dimension der Armenischen Frage“: „Die schwierigste und bizarrste Gruppe, die unter den Akteuren der armenischen Frage psychologisch zu verstehen ist, sind die Türken, die behaupten, dass der armenische „Völkermord“ stattgefunden hat, und die sich bei den Armeniern entschuldigt haben.[18]

„Verunglimpfung des Türkentums“

Unabhängig davon, wie die Aufarbeitung des Holocaust in Deutschland nach 1945 bewertet wird: es kann nicht bestritten werden, dass Deutschland den Holocaust nicht leugnet. Die Leugnung der während der Herrschaft des Hitlerfaschismus verübten Verbrechen kann strafrechtlich verfolgt werden. In der Türkei hingegen gab es den berüchtigten §301, der nach der Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen etwas abgemildert werden musste. Wer von einem Völkermord an den Armeniern sprach wurde gemäß § 301 wegen „Verunglimpfung des Türkentums“ angeklagt.[19] Dazu zählte nicht nur der ermordete armenische Publizist und Journalist Hrant Dink, sondern auch der Nobelpreisträger für Literatur, Orhan Pamuk und die Schriftstellerin Elif Safak.[20]

Die offizielle Geschichtsdarstellung sitzt tief in den Köpfen fest, denn bereits die Kinder und Jugendliche lernen in der Schule, dass die Armenier und andere Christen Verräter waren, die den Türken während des 1. Weltkrieges in den Rücken fielen. In Deutschland sollte die Geschichte des Völkermords an den Armeniern im Geschichtsunterricht behandelt werden, so heißt es jedenfalls im Bundestagsbeschluss von 2005: „Einen wichtigen Beitrag zur Erinnerung können die Bundesländer leisten. Aufgabe der Bildungspolitik ist es, dazu beizutragen, dass die Aufarbeitung der Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Teil der Aufarbeitung der Geschichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert auch in Deutschland erfolgt.“[21] Aber wegen des großen Widerstands türkisch-nationalistischer Verbände wird das brisante Thema im Geschichtsunterricht kaum behandelt. Selbst in den Bundesländern, wo die Linkspartei an der Regierung beteiligt war oder ist, wird lieber geschwiegen, um den „Schulfrieden“ nicht zu stören. Die „Erinnerungskultur“, auf dessen Bedeutung immer hingewiesen wird, hat noch zu viele Lücken; dazu gehört nicht nur der Völkermord an den Armeniern, sondern auch der an den Herero und Nama.

Deutsche Linke als Versöhnungsmissionare

Bei der Auseinandersetzung mit der Linkspartei ging es um Völkermordleugnung und um die Frage, ob sie als eine berechtigte „Meinungsäußerung der anderen Seite“ toleriert werden könne. Ramelow hingegen versuchte die Frage in eine andere Richtung zu lenken. Dies wird aus der Mail an den Zentralrat der Armenier in Deutschland deutlich: „Herr Ramelow ist der Meinung, dass die Möglichkeiten einer Versöhnung in dieser Debatte im Vordergrund stehen sollten.“ Die Mails aus dem Büro Ramelow enthält nicht nur den unterschwelligen Vorwurf an die Armenier, sie würden ihre Teilnahme am „stattfindenden historischen Erkenntnisprozess“ verweigern, sondern auch kein Interesse an einem „zivilisatorischen Versöhnungsprozess“ haben. Diese Vorwürfe ähneln denen, die auch Ankara stets gegen die Armenier erhebt: Sie würden die Bildung einer „gemeinsamen Historikerkommission“ ablehnen und sich unversöhnlich und feindselig gegenüber der Türkei verhalten. Ankara selber bekundet stets seine Versöhnungsbereitschaft – sofern die Armenier nicht mehr die Anerkennung des Völkermords fordern.

Wie kann angesichts der staatlich betriebenen Leugnung des Völkermords überhaupt von einem „Versöhnungsprozess“ die Rede sein? „Kaum etwas vergiftet die Atmosphäre zwischen Täter- und Opfervölkern stärker als die Leugnung“, schreibt Prof. Gunnar Heinsohn, denn „während letztere ihre Toten beweinen, behaupten erstere, dass es diese Toten gar nicht gibt, womit sie die Leidgeprüften auch noch als Wahnsinnige hinstellen, was deren Verbitterung noch steigern muss.“ Der Gedanke einer Versöhnung mag zwar als ein Ausdruck einer christlich-humanistischen Haltung Ramelows erscheinen, aber im Zusammenhang mit einem Völkermord geht es gar nicht um eine Versöhnung zwischen „zerstrittenen“ Völkern.

Der Psychoanalytiker Kurt Grünberg schreibt in seinem Aufsatz „Versöhnung über Auschwitz“: „Auf den ersten Blick fällt die Anwendung eines Begriffes auf, der eher für einen Konflikt zwischen zwei Individuen geeignet wäre. Im Kontext von Klein- oder Großgruppen müßte zumindest davon ausgegangen werden können, daß die betreffenden Kontrahenten, die ihre Kräfte zu messen suchen, tendenziell gleichberechtigt sind. Beispielsweise könnten zwei Kinder beim Streit um ein Spielzeug in einen Kampf geraten, und beide ‘versöhnen’ sich hinterher. Eines verzeiht dem anderen vielleicht gar die Zuhilfenahme unlauterer Mittel und umgekehrt. Man verzeiht und versöhnt sich. Auch wenn zwei ‘Fan’-Gruppen während eines sportlichen Wettbewerbs tätlich aneinandergeraten, wäre es denkbar, sich im Nachhinein zu versöhnen. In solchen Fällen könnte ein Versöhnungs-Konzept zu Recht in Anspruch genommen werden. Im Kontext eines Völkermordes jedoch ist diese Bezugnahme völlig inadäquat.“[22] Was im Zusammenhang mit dem Holocaust gilt, gilt auch für den Völkermord an den Armeniern. Die armenischen Bürger*innen des Osmanischen Reich wurden nicht Opfer eines Streits mit ihren türkischen Nachbarn, sondern Opfer der verbrecherischen Politik einer türkisch-nationalistischen Regierung.  In einem ausführlichen Bericht an die deutsche Militärmission in Istanbul schreibt Oberstleutnant Stange im August 1915 aus Erzurum: „Die Austreibung und Vernichtung der Armenier war vom jungtürkischen Komitee in Konstantinopel beschlossen, wohl organisiert und mit Hilfe von Angehörigen des Heeres und von Freiwilligenbanden durchgeführt. Hierzu befanden sich Mitglieder des Komitees hier an Ort und Stelle.“[23]

Die Armenier leisteten kaum Widerstand gegen die Anordnungen der Regierung. Der deutsche Vertreter in Erzurum war Max Erwin von Scheubner-Richter, ein späterer Anhänger Adolf Hitlers, der Putschversuch in München im November 1923 getötet wurde. Erzurum war die bedeutendste Stadt in der Nähe der russisch-türkischen Grenze von 1914. Die Stadt und die gleichnamige Provinz, die im Zentrum des Hochlands von Armenien liegt, hatten einen hohen armenischen Bevölkerungsanteil. Am 5. August 1915 schrieb Scheubner-Richter einen Lagen Bericht an den deutschen Botschafter in Istanbul: „Die Armenier, besonders die Stadtbewohner, diese „Juden des Ostens“, sind wohl gerissene Handelsleute, und kurzsichtige Politiker, aber in ihrer Mehrzahl und soweit ich sie kennen gelernt, keine aktiven Revolutionäre. Wären sie es und hätten sie Waffen besessen, dann dürften sie sich auch, als in der Ueberzahl befindlich und da der Tod ihnen ja auf jeden Fall sicher, der Aussiedelung gewaltsam widersetzt haben. Dies ist aber nur an wenigen Stellen – wohl den Sitzen der Revolutionskomitees – geschehen. Ueberall sonst verlief die Aussiedelung ohne jeden Zwischenfall und haben sie sich dann später mit Gottergebenheit abschlachten lassen.“[24]

Als das Thema Völkermord an den Armeniern 2005 zum ersten Mal auf die Tagesordnung des Bundestags kam, stand die „Versöhnung“ im Mittelpunkt. Das wurde bereits in der Überschrift des gemeinsamen Antrags der CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP deutlich: „Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 – Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen“.[25] Die Bundesregierung wurde aufgefordert „dabei mitzuhelfen, dass ein Ausgleich durch Aufarbeitung, Versöhnen und Verzeihen historischer Schuld erreicht wird“.

Zum 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern brachte die Linkspartei 2015 einen Antrag ein, der als politisches Plagiat bezeichnet werden könnte. Eine zentrale Passage aus dem Antrag von 2005 wurde zehn Jahre später von der Linkspartei wörtlich übernommen. Sie appellierte an die Bundesregierung, „dabei mitzuhelfen, dass zwischen Türkinnen und Türken sowie Armenierinnen und Armeniern ein Ausgleich durch Aufarbeitung, Versöhnen und Verzeihen historischer Schuld erreicht wird“.[26] Die Penetranz, mit der Deutschland seit 2005 ihre Versöhnungsmission verfolgt, ist von der Linksfraktion noch gesteigert worden. In ihrem 2015 eingebrachtenAntrag verlangtee sie von der Bundesregierung „Maßnahmen vorzuschlagen sowie finanziell zu unterstützen, um in der Türkei Orte des öffentlichen Gedenkens und gemeinsamer Begegnung zu schaffen, wie zum Beispiel die Gründung einer türkisch-armenischen Versöhnungsstiftung“.[27]

Sämtliche Bundestagsparteien haben versucht, Deutschlands Mitschuld am Völkermord durch die Finanzierung einer „Versöhnung“ zwischen Türken und Armeniern wiedergutzumachen.[28] Die deutsche Versöhnungsmission zielte darauf ab, die Frage der Anerkennung des Völkermords in den Hintergrund zu rücken und stattdessen eine Versöhnung zwischen „Türken und Armeniern“ zu unterstützen. Dabei ist der Völkermord nicht ein vom türkischen Volk verübtes Verbrechen an ihren armenischen Nachbarn, sondern ein Staatsverbrechen. Das türkische Volk kann nicht für die verbrecherische Politik des „Komitees für Einheit und Fortschritt“ verantwortlich gemacht werden. Die Herrschaft des „Komitees“ hatte nicht die geringste demokratische Legitimation durch das türkische Volk oder die muslimische Bevölkerungsmehrheit. Dass innerhalb der muslimischen Bevölkerung die Vernichtungspolitik der Regierung ablehnte, geht aus Berichten an die deutsche Botschaft oder an die deutsche Militärmission in Istanbul hervor.

In seinem Geheim-Bericht an den deutschen Botschafter in Istanbul schreibt Scheubner-Richter aus Erzurum, dass in der türkischen Bevölkerung Kritik an der Vernichtungspolitik der jungtürkischen Regierung geäußert wurde. „Von vernünftig denkenden weiten Kreisen der türkischen Bevölkerung, besonders von den Grundbesitzern, wird diese Ausrottungspolitik auch nicht gebilligt. Diese Kreise, die mit den Armeniern zusammengearbeitet haben und gut mit ihnen ausgekommen sind, erkennen die grosse wirtschaftliche und politische Gefahr dieses neuen ‚Systems der Lösung der Armenier-Frage‘“. Der deutsche Vertreter in Erzurum gibt in seinem Bericht die Äußerung eins „sehr angesehenen und einflussreicher Bey“ wider, der sagte, dass es zwar früher Armenier-Massaker gegeben habe, aber „jetzt morde man entgegen den Vorschriften des Korans zu Tausenden unschuldige Frauen und Kinder. Dieses geschehe nicht etwa von in Erregung geratenen Volksmengen, sondern systematisch und auf Befehl der Regierung ‚des Komitees‘, wie er mit Betonung hinzufügte.“[29]

Tolerierung von Völkermordleugnung bedeutet Fortsetzung der deutschen Mitschuld am Völkermord

Die Mitglieder einer Partei können entscheiden, welche Ziele sie mit welchen Mitteln verfolgen wollen und wen sie an die Parteispitze wählen. Ob die Linkspartei nun eine radikal- antikapitalistische oder eine sozialreformistische Linie einschlägt ist ihre Entscheidung. Bei der Frage der Haltung gegenüber Völkermordleugnung geht es aber um das politische Selbstverständnis und Glaubwürdigkeit eines Linken. Es kann hier keinerlei Kompromisse, Zugeständnisse geben, die darauf hinauslaufen, dass Völkermordleugnung toleriert oder legitimiert wird. In der Causa Keskin gab es keinen nennenswerten Widerspruch in der Partei und der Bundestagsfraktion; und auch die Argumentation und Haltung von Ramelow wurde kritiklos hingenommen. Die Linkspartei hat zwei miteinander unvereinbare Positionen vertreten: Sie hat den Völkermord an den Armeniern anerkennen, dann aber gleichzeitig in ihren Reihen einen Leugner des Verbrechens als Partei- und Fraktionsmitglied geduldet und verteidigt.

Wie berechtigt die Kritik an Keskin war, wurde deutlich, als er später in die türkischen „Vaterländischen Partei“ von Doğu Perinçek eintrat. Perinçek war Anfang der 70er Jahre eine prominente Figur der türkischen Linken, später mutierte er zu einem türkischen Nationalisten.[30] Er verherrlicht Talat Pascha, der eine Schlüsselfigur des Verbrechens an den Armeniern. Türkische Völkermordleugner unter Führung von Perinçeks organisierten die Talat-Pascha-Märsche in Berlin und anderen europäischen Städten.[31]

Die Linkspartei bzw. ihre Vorgängerin die PDS ist die erste und bislang einzige sozialistische Partei Europas, die einen türkischen Völkermordleugner zu einem Parlamentsmandat verholfen hat. Angesichts der auch vom Bundestag anerkannten Mitschuld Deutschlands am Verbrechen ihres türkischen Verbündeten, bedeutet das nichts anderes als eine Fortsetzung der bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichenden deutsch-türkischen „Freundschaft“. Ob die deutsche Linke die ganze Dimension der damaligen Auseinandersetzung erkennen und selbstkritisch aufarbeiten, ist fraglich. Es wird wohl auch weiterhin geschwiegen, verdrängt und gehofft, dass alles irgendwann vergessen sein wird. In Deutschland nichts Neues.


[1] https://www.bodo-ramelow.de/bodo-ramelow/zur-person/

[2] https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/die-unruehmliche-rolle-der-evangelischen-kirche-im-dritten-reich/

[3] ebenda

[4] Deborah E. Lipstadt, Leugnen des Holocaust. Rechtsextremismus mit Methode, Reinbek bei Hamburg, 1996

[5] https://www.hagalil.com/01/de/Antisemitismus.php?itemid=292&catid=44

[6] Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, Berlin 1974, S. 62 f

[7] Toros Sarian, Zum Zusammenhang zwischen dem Völkermord an den ArmenierInnen und der Türkisierung der Wirtschaft, Beitrag in der Broschüre der RLS zum 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern: https://www.rosalux.de/publikation/id/796/ueberleben-und-erinnern-als-widerstand?cHash=0a0d64f6848ffa5ce0a2117f4d3bd2df

[8] Corry Guttstadt, Die Türkei, die Juden und der Holocaust, Hamburg 2008

[9] Zitiert in Hans-Lukas Kieser, Dominik J. Schaller (Hg.), Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah, Zürich 2002, S. 503

[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_May

[11] Ebenda, S. 508

[12] Reichstag, 139. Sitzung, 14.4.1913

[13] Wolfgang Gust (Hg.), Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe 2005, S. 395

[14] https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-3348

[15] Gerard Chaliand (Hg.), Kurdistan und die Kurden, Bd. 1, Kassel 1980, S. 116

[16] Harout Sassounian, The Armenian Genocide – The World Speaks Out 1915-2005, Glendale 2005, S. 61f

[17] Die englische Übersetzung erschien unter dem Titel „1915: The Armenian Genocide“, London 2015

[18] Assist. Prof. Dr. Deniz Altınbaş, THE PSYCHOLOGICAL DIMENSION OF THE ARMENIAN QUESTION, Review of Armenian Studies, No. 21, 2010

[19] https://www.deutschlandfunk.de/der-paragraf-301-bringt-einen-zum-schweigen.795.de.html?dram:article_id=116498

[20] https://www.deutschlandfunk.de/der-paragraf-301-bringt-einen-zum-schweigen.795.de.html?dram:article_id=116498

[21] http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/15/056/1505689.pdf

[22] https://www.hagalil.com/2011/02/versoehnung/

[23] Gust, S. 270

[24]  Gust, S. 226 f.

[25] https://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP15/912/91215.html

[26] https://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP18/659/65941.html

[27] https://torossarian.com/toros-sarian-artikel-antrag-der-linksfraktion-im-bundestag-zum-100-jahrestag-des-voelkermords-an-den-armeniern/

[28] https://torossarian.com/toros-sarian-artikel-hintergruende-und-folgen-eines-von-deutschland-finanzierten-versoehnungsprojekts/

[29] Gust, S. 225

[30] https://www.jungewelt.de/artikel/260578.querfront-auf-t%C3%BCrkisch.html

[31] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/marsch-auf-berlin-wir-sind-beleidigt-1301877.html