Yerevan

Zwischen Stagnation und Erneuerung

Kürzlich fand in Berlin eine große Kundgebung statt, an der über 15.000 Aramäer-Assyrer aus ganz Deutschland teilnahmen, um für den Erhalt des Klosters Mor Gabriel zu demonstrieren. Unter den Teilnehmern der Kundgebung waren sehr viele Jugendliche. Im Januar 2007, kurz nach der Ermordung Hrant Dinks, hatten armenische Vereine zu einem Trauermarsch in Köln aufgerufen. Nur knapp 1000 Menschen – darunter viele Türken und Kurden – waren dem Aufruf gefolgt.

Die Vorbereitungsphase für die Demonstration in Berlin war länger und gründlicher als für die in Köln. Trotzdem ist es offenbar so, dass die armenischen Vereine nicht in der Lage sind, ihre Mitglieder zu mobilisieren. Selbst an den Kundgebungen zum Gedenken an den 24. April, die vor vielen Jahren durchgeführt wurden, nahmen nur wenige teil. Besonders bedenklich ist die Passivität der armenischen Jugendlichen. Dabei gilt die Jugend als die Zukunft der Gemeinschaft – so wird es jedenfalls von der älteren Generation immer wieder betont. Was sind die Ursachen und Gründe für diese Passivität? Hat die nach Frankreich zweitgrößte armenische Gemeinschaft in der EU keine Perspektive mehr?Am Beispiel des „Armenischen Jugendverbandes Kilikia e.V.“, der im Sommer 2007 in Hamburg gegründet wurde und als gemeinnützig anerkannt ist, wird deutlich, dass die armenische Jugend sehr wohl in der Lage ist, eigenständig etwas aufzubauen. Leider hat es in anderen Städten bislang keine vergleichbaren Initiativen gegeben. Der Aufbau der AGBU Young Professionals –die in mehreren Orten Vertretungen aufgebaut hat – ist ein weiteres Beispiel dafür, dass neue Ansätze möglich sind, die frischen Wind in die armenische Gemeinschaft bringen. Alle Versuche, solche Initiativen als „Spaltung der Gemeinde“ zu sabotieren, zeigen nur, dass manche Armenier mit allen Mitteln dagegen ankämpfen, dass sich innerhalb der Gemeinschaft neue, organisierte Strukturen herausbilden. Es ist vielleicht nicht überraschend, dass der Widerstand vor allem aus dem rechten Lager kommt, das sich besonders als Hüter der „Einheit“ aufspielt.

Innerhalb der armenischen Gemeinschaft existiert leider allgemein eine starke Tendenz, die sich gegen jegliche politische Betätigung richtet. Es geht hierbei nicht um die Frage parteipolitischer Betätigung, denn dies wird durch die Vereinssatzungen verhindert, um das Vereinsleben nicht durch politische Auseinandersetzungen zu erschweren. Bedenklich und auch schädlich ist aber, wenn jegliche Diskussion um politische, die armenische Gemeinschaft betreffende Fragen unterbunden bzw. abgelehnt wird. Politik wird gewissermaßen zum Tabu erklärt. Dies ist gerade bei Armeniern aus der Türkei eine oft anzutreffende Haltung. Was hätte wohl ein Hrant Dink, der sich bereits in jungen Jahren in linksrevolutionären Organisationen politisch betätigt hatte, über diese Haltung gesagt? Wer hätte die „unsichtbaren“ Armenier der Türkei überhaupt noch zur Kenntnis genommen, wenn nicht ein politisch denkender und handelnder Hrant Dink mutig und entschlossen das Schweigen gebrochen hätte? Es ist kein Geheimnis, dass Hrant Dink innerhalb der eigenen, weitgehend apolitischen Gemeinschaft und vor allem beim heutigen Patriarchen auf erhebliche Ablehnung gestoßen ist.

Es kann nicht bestritten werden, dass sich die armenische Gemeinschaft in Deutschland in einer tiefen Krise befindet, aus der sie nur sehr mühsam herauskommen wird – wenn überhaupt. In zahlreichen Kulturvereinen und Kirchengemeinden herrscht mehr oder weniger Stagnation. Von einer handlungsfähigen und aktiven, politischen Interessenvertretung der Armenier in Deutschland kann keine Rede sein. Die gegenwärtige Krise entstand nicht plötzlich. Zu lange wurden bestehende Probleme und Defizite einfach ignoriert. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Gemeinschaft sich in einer Sackgasse wiederfinden würde. Heute erleben wir, wie – statt die Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit selbstkritisch zu untersuchen – mit allen Mitteln versucht wird „Spalter“ und andere „Verräter“ in der Gemeinschaft für die herrschende Misere verantwortlich zu machen. Im politischen und gesellschaftlichen Leben wird oft so vorgegangen, um von den eigenen katastrophalen Fehlern abzulenken und jegliche eigene Verantwortung zu vertuschen.

Die armenische Gemeinschaft steht vor der Entscheidung, entweder in der Stagnation zu verharren oder sich aufzuraffen und einen Prozess der umfassenden, demokratischen Erneuerung einzuleiten und die veralteten, verkrusteten und sich als uneffizient erweisenden Strukturen zu überwinden. Es bleibt zu hoffen, dass überall in Deutschland neue Initiativen entstehen, die sich miteinander vernetzen, austauschen, sich gegenseitig unterstützen und gemeinsame Projekte entwickeln. Als Ergebnis dieses notwendigen, breiten und tiefen Erneuerungsprozesses könnte am Ende ein demokratisches Forum entstehen, in dem sowohl alle armenischen Vereine, Initiativen und Institutionen, als auch einzelne herausragende Persönlichkeiten der Gemeinschaft einen Platz hätten.

Toros Sarian

23.02.2009