Keghart

Die Armenier dürfen keinen Patriarchen wählen: Ist das der Anfang vom Ende des Armenisch-Apostolischen Patriarchats in Konstantinopel?

Im Juli 2008 wurde bekannt, dass Mesrob Mutafyan, der Patriarch der Armenisch Apostolischen Kirche in Konstantinopel, an Alzheimer leidet und sein Amt nicht mehr wahrnehmen kann. Obwohl der Patriarch auf Lebenszeit gewählt wird, war allen klar, dass eine Lösung gefunden werden musste. Offenbar waren aber bestimmte Kreise daran interessiert, dies möglichst lange hinauszuzögern.

Diese Verzögerungstaktik ließ sich angesichts der wachsenden Unruhe innerhalb der armenischen Gemeinde in Konstantinopel nicht länger fortsetzen. Im November 2009 entschied der Rat der Geistlichen des Patriarchats mit der Wahl eines „Ko-Patriarch“ das Problem zu lösen. Es wurde ein Ausschuss gebildet, um die Wahlprozedur in die Wege zu leiten.

Am 3. Januar 2010 stellte der Rat der Geistlichen unter dem Vorsitz von Erzbischof Aram Atesyan beim Innenministerium einen Antrag für die Wahl eines Ko-Patriarchen. Die Geistlichen waren der Auffassung, dass kein neuer Patriarch gewählt werden dürfe, solange der amtierende noch lebt. Der „Ko-Patriarch“ sollte nach dem Tod Mesrob Mutafyans sein Nachfolger werden. Am 14. Januar stellte aber der Wahlausschuss einen Antrag auf Neuwahl des Patriarchen. Somit musste die türkische Regierung über zwei unterschiedliche Anträge entscheiden.

Es dauerte lange, bis sie am 29. Juni ihre Entscheidung zugunsten des Antrags des Rats der Geistlichen bekannt gab: Weil der Patriarch noch am Leben sei, gäbe es keine rechtliche Grundlage für die Wahl eines neuen Patriarchen oder eines Ko-Patriarchen, es könne lediglich ein Stellvertreter gewählt werden. Obwohl in der Armenisch Apostolischen Kirche die Wahl eines „Stellvertreters“ nicht vorgesehen ist, legte der Rat der Geistlichen keinen Widerspruch ein. „Die Regierung hat leider keine Erlaubnis erteilt, um einen Patriarchen oder Ko-Patriarchen zu wählen“, sagte Erzbischof Atesyan, der Vorsitzende des des Gremiums. Er kündigte gleichzeitig die Wahl eines „stellvertretenden Patriarchen“ an. Der erweiterte Rat der Geistlichen wählte bereits am 1. Juli  Erzbischof Atesyan in das neue Amt; es gab keinen Gegenkandidaten. Erzbischof Bekdjian und Bischof Culciyan, die zwei Kandidaten für das Amt des Patriarchen bzw. des Ko-Patriarchen, waren einfach übergangen worden. Sie sahen sich genauso vor vollendete Tatsachen gestellt, wie die Armenier Konstantinopels.

„Der Tradition der Wahl des geistlichen Führers durch das Volk, die wichtigste Besonderheit des armenischen Patriarchats in der Türkei, wurde ein schwerer Schlag versetzt“, schrieb Rober Koptas, der Chefredakteur der Agos. Der Wahlausschuss, dessen Antrag das Innenministerium unbeantwortet gelassen hatte, erklärte, dass er alles tun werde, um zu verhindern, dass das demokratische Recht der Gemeinde, den Patriarchen zu wählen, abgeschafft wird. Inzwischen hat der Ausschuss Klage gegen das Innenministerium eingereicht. Sie scheint entschlossen zu sein, alle rechtlichen Mittel auszuschöpfen, um die vom Rat der Geistlichen vorgenommene Wahl eines stellvertretenden Patriarchen für ungültig zu erklären.

Dr. Sarkis Adam, Mitglied des Diözesenbeirats der Armenisch Apostolischen Kirche in Deutschland, schrieb in der „HyeTert“: „Mit einem Beschluss der Regierung wurde die Periode des ‚Patriarchen Stellvertreters’ eingeleitet. Nach meiner Überzeugung wäre es am Besten, wenn sofort mit Rechtsmittel Widerspruch gegen diese Entscheidung eingelegt würde. Die Armenier in der Türkei müssen entschlossen sein, ihr gesetzmäßiges Recht auf Wahl eines Patriarchen oder Ko-Patriarchen durchzusetzen.“

Der Primas der Diözese der Armenisch Apostolischen Kirche in Deutschland, Erzbischof Karekin Bekdjian, der als der aussichtsreichste Kandidat für das Amt des Patriarchen galt, stellte in einem offenen Brief zehn Fragen an den Rat der Geistlichen, um Klarheit darüber zu bekommen, wie es zu einer solchen, sowohl für die Kandidaten für das Amt des Patriarchen als auch für die Armenier von Konstantinopel überraschenden Entwicklung kommen konnte. Erzbischof Karekin Bekdjian schreibt am Ende seines offenen Briefes: „Falls im Vorgehen und in dem Beschluss des Rates der Geistlichen Unregelmäßigkeiten gab, dann werden sie nicht ohne Konsequenzen bleiben. Auch wenn wir, die gewöhnlich Sterblichen, in dieser, die Zukunft der Kirche betreffenden Frage unsere Augen vor den Unregelmäßigkeiten verschließen sollten, so wird Gott sicher einschreiten und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.“

Auch Bischof Sebuh Culciyan, der in der Provinz Gukark der Republik Armenien tätig ist und ebenfalls für das Amt des Patriarchen kandidiert hatte, erklärte in einer in der Wochenzeitung Agos veröffentlichten Stellungnahme: „Wenn die Regierung keine Erlaubnis für die Wahl eines neuen Patriarchen erteilt, hätte sie wenigstens erlauben sollen, dass ein Ko-Patriarch gewählt wird, was im Sinne der von ihr immer wieder beschworenen Politik der ‚demokratischen Öffnung’ entsprochen hätte. Die armenische Gemeinschaft in der Türkei hatte erwartungsvoll auf eine solche Entscheidung gehofft.“

Weil der Rat der Geistlichen und der zivile Wahlausschuss zwei unterschiedliche Anträge gestellt hatten, entstand teilweise der Eindruck, als ob diese „Unstimmigkeiten innerhalb der armenischen Gemeinschaft“ der türkischen Regierung die Gelegenheit geboten hätten, in der Angelegenheit zu intervenieren. Die vorgeschlagene „Empfehlung“ erscheint für manche Armenier sogar als eine Art akzeptable Lösung der innerarmenischen „Unstimmigkeit“ durch den „neutralen“ türkischen Staat.

Es gab tatsächlich unterschiedliche Auffassungen darüber, ob ein neuer Patriarch oder lediglich ein Ko-Patriarch gewählt werden sollte. Aber im Januar, als nacheinander zwei Anträge gestellt wurden, gingen die Armenier Konstantinopels davon aus, dass wie üblich sechs seitens der Gemeinde gewählten zivilen Delegierten und ein geistlicher Delegierter entweder einen neuen Patriarchen oder einen Ko-Patriarchen wählen würden. Die eigentliche „Unstimmigkeit“ entstand erst dadurch, dass der Rat der Geistlichen unter Führung von Atesyan die Gemeinde ihres demokratischen Wahlrechts beraubte hatte. Auch Erzbischof Bekdjian und Bischof Culciyan, die sich nach Konstantinopel begeben hatten, um sich auf Versammlungen den Gemeindemitgliedern als Kandidaten vorzustellen, gingen trotz der unterschiedlichen Anträge davon aus, dass zumindest eine Wahl stattfinden würde.

Obwohl der erkrankte Patriarch Mutafyan Erzbischof Sahan Sivaciyan zu seinem Vertreter ernannt hatte, übernahm faktisch Erzbischof Atesyan, der Vorsitzende des Rates der Geistlichen diese Rolle. Zwei Beispiele zeigen, dass er auch außerhalb der Türkei als der „inoffizielle“ Patriarch betrachtet wurde: Im April 2009 traf er sich mit US-Präsident Barak Obama und auch das Nachrichtenmagazin der Spiegel führte im gleichen Monat ein Interview mit ihm und nicht mit Sivaciyan.

Natürlich stellt sich hier die Frage, warum Erzbischof Atesyan, der seit nunmehr über zwei Jahren alle Fäden im Patriarchat in den Händen hält, sich nicht einer Wahl – entweder zum Patriarchen oder zum Ko-Patriarchen – stellen wollte. Hatte der „inoffizielle“ Patriarch keine Chance das Votum der Gemeinde zu bekommen? Aram Atesyan wusste, dass er unter den Armeniern Konstantinopels kaum Rückhalt besaß. Die eilig durchgeführte „Wahl“ nach der Entscheidung der Regierung vom 29. Juni deutet darauf hin, dass er die staatliche „Vorlage“ genutzt hat, um ohne das Votum der Gemeinde – und ohne Gegenkandidaten – die Leitung des Patriarchats nun auch „offiziell“ zu übernehmen.

Kann die Entwicklung in Konstantinopel den Armeniern außerhalb der Türkei egal sein?

Das im Jahre 1461 auf Anordnung von Sultan Mehmet II geschaffene Patriarchat hat einen besonderen Platz in der Geschichte der Armenisch Apostolischen Kirche und der Armenier. Nachdem der Großteil Armeniens von den Osmanen erobert wurde, war es im Wesentlichen die armenische Kirche, die dafür sorgte, dass die nationale und kulturelle Identität der Armenier unter osmanisch-türkischer Herrschaft erhalten blieb. Die großen Verdienste dieser über Jahrhunderte hinweg einzigen funktionsfähigen nationalen Institution können nicht bestritten werden. Namen wie Mesrop Maschtotz, Khrimyan Hayrik und Komitas Vartabed sind untrennbar mit der Geschichte und Kultur der Armenier und der Armenisch Apostolischen Kirche verbunden.

Der Entwicklung um das Patriarchat in Konstantinopel mit Ignoranz und Gleichgültigkeit zu begegnen hieße, seine eigene Geschichte und die Verdienste dieser wichtigen Institution zu verleugnen. Es wäre Ausdruck einer Geringschätzung der Leistung der Armensch Apostolischen Kirche und Patriarchats bei der Bewahrung der Identität der Armenier unter osmanisch-türkischer Herrschaft. Das armenische Volk hat sich in einem langwierigen Kampf das Recht erkämpft, den Patriarchen selber zu wählen. Die Geistlichkeit hat der Gemeinde dieses Recht mit der „Wahl“ vom 1. Juli wieder entrissen. Wem die Verteidigung demokratischer Rechte wichtig ist, muss in Solidarität mit den Armeniern Konstantinopels gegen dieses unrechtmäßige Vorgehen protestieren. Die armenischen Institutionen, Parteien und Persönlichkeiten jedoch, die immer sehr sensibel auf die anti-armenische Politik des türkischen Staates reagieren, scheint die Intervention der türkischen Regierung in die Angelegenheiten des Patriarchats nicht sonderlich zu interessieren.

Es gibt für Armenier – unabhängig davon, welcher Kirche sie angehören oder Atheisten sind – also mehrere Gründe, warum sie sich mit der Entwicklung um das Patriarchat in Konstantinopel auseinandersetzen sollten. Die „Wahl“ vom 1. Juli, die Dr. Sarkis Adam als den Beginn der „Periode des stellvertretenden Patriarchen“ nennt, scheint vielmehr die Periode des endgültigen Niedergangs des Patriarchats einzuläuten. Dass ein Gericht diese Wahl annulliert, dürfte sehr unwahrscheinlich sein. Mit einem „stellvertretenden Patriarchen“, der zudem nicht von der Gemeinde gewählt wurde, kann es kein Patriarchat geben.

Die Entwicklung liegt ganz im Interesse der türkischen Regierung. Aber die eigentliche Verantwortung für die Krise liegt nicht bei ihr, sondern bei Erzbischof Aram Atesyan und dem Rat der Geistlichen. Sie haben – bewusst oder unbewusst – die auf ein Schwächung der armenischen Gemeinschaft und des Patriarchats abzielende Politik der türkischen Regierung unterstützt. Mit der „Wahl“ vom 1. Juli haben sie sich über den Willen des eigenen Gemeinde hinweggesetzt, was unvermeidlich zu einer Entfremdung zwischen der Gemeinde und dem Patriarchat führen wird. Dies wird letztendlich auch für das Patriarchat selber katastrophale Folgen haben. Anscheinend ist den Verantwortlichen im Patriarchat nicht klar, dass sie als die Totengräber dieser für die Armenier wichtigen Institution eingehen könnten.

Staatsminister Egemen Bagis, der zugleich auch Verhandlungsführer bei den Beitrittsverhandlungen mit der EU ist, besuchte kürzlich das Patriarchat in Kumkapi. Er würdigte die Verdienste des Patriarchen Mutafyan, der, als er noch gesund war, auf Wunsch der türkischen Regierung alle Hauptstädte der EU besucht habe, um für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei zu werben. „Er hat die Bemühungen unseres Ministerpräsidenten und Staatspräsidenten sehr unterstützt“, lobte Bagis den erkrankten Patriarchen. Der eigentliche Grund für den Besuch des Staatsministers war aber weniger sicher nicht der kranke Mutafyan. Vielmehr ging es der türkischen Regierung wohl darum, sich angesichts des wachsenden Unmuts innerhalb der armenischen Gemeinde demonstrativ hinter Aram Atesyan zu stellen.

Es kommt jetzt darauf an, dass die Armenier weltweit nicht nur gegen das Vorgehen des Rats der Geistlichen und Aram Atesyans protestieren, sondern auch gegen die Einmischung der Regierung in die Angelegenheiten der armenischen Gemeinschaft in der Türkei. Die Öffentlichkeit muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass die ohnehin beschränkten Rechte der christlichen Minderheiten in der Türkei noch mehr eingeschränkt werden, während sich die AKP-Regierung  nach außen hin als tolerant gibt. Sowohl in den Kirchengemeinden als auch in den Kulturvereinen sollte überlegt werden, wie die armenische Gemeinschaft in Deutschland für die Achtung der demokratischen Rechte der Armenier Konstantinopels eintreten kann. Es gibt bereits einen Blog, wo mit einer Unterschriftensammlung die Forderung nach einer Wahl des Patriarchen unterstützt wird: www.patrigimizisecmekistiyoruz.blogspot.com („Wir wollen unseren Patriarchen wählen“).

Toros Sarian