Parajanov

Die Türkei – verbrecherischer Staat oder Demokratie?

Die Bedeutung der Türkei hat in den vergangen Jahren beachtlich zugenommen: Sie ist Mitglied im UN-Sicherheitsrat geworden, gehört der G-20 an, in der die wichtigsten Industrie- und Schwellenländer vertreten sind, und führt seit 2005 Beitrittsverhandlungen mit der EU. Von einem Staat, dessen Gründer sich an Europa orientierten und der seit 1952 Mitglied der NATO ist, würde man denken, er sei sicher demokratisch.

Kein geringerer als US-Präsident Barack Obama, der im April 2009 die Türkei besucht hatte, überschüttete das Land mit viel Lob und betonte die „außerordentlich große Bedeutung der Türkei als Bündnispartner der USA“. In seiner Rede in der Nationalversammlung in Ankara nannte er die Türkei eine „Brücke zwischen der islamischen Welt und dem Westen“, eine „starke säkulare Demokratie“, die auf ähnlichen Werten errichtet worden sei wie die USA: Respekt für die Religion, den Rechtsstaat und alle Freiheiten. Besonders würdigte Obama den Gründer der Republik Türkei, Mustafa Kemal Pascha, als einen „Mann mit Vision, Hartnäckigkeit und Mut, der die Türkei auf den Weg der Demokratie brachte.“

Der US-Präsident hatte bei seinem Staatsbesuch auch etwas Zeit für die Kurden übrig: „Sieben Minuten lang sprach Obama mit dem Chef der größten Kurdenpartei DTP, Ahmet Türk. Er ließ sich von 17.000 ungeklärten Todesfällen im Südosten des Landes berichten und vom DTP-Projekt einer ‚demokratischen Autonomie‘ für die kurdischen Gebiete. Ahmet Türk war der erste oppositionelle kurdischstämmige Politiker der Türkei, der die Gelegenheit erhielt, einem US-Präsidenten über die Lage der Kurden zu berichten. Bei so viel öffentlicher Wertschätzung dürften die Überlebenschancen der DTP, die derzeit von einem Parteiverbot bedroht ist, gestiegen sein.“ (Spiegel Online, 07.04.2009, „Obama macht sich Freunde in der Türkei„) Wahrscheinlich hat sich Obama nicht einmal darüber gewundert, warum der DTP-Vorsitzende, der ihm über die Diskriminierung und Unterdrückung der Kurden berichtete, den Nachnamen „Türk“ trägt.

Heute wissen wir, dass die Überlebenschancen der DTP durch das 7-Minuten-Gespräch ihres Vorsitzenden mit dem US-Präsidenten nicht gestiegen sind: Sie ist inzwischen verboten worden; und Ahmet Türk darf sich nicht mehr parteipolitisch betätigen. Ein Jahr nach dem Besuch des US-Präsidenten herrscht in dem Staat, dessen Gründer den schönen Spruch „Frieden zu Hause, Frieden in der Welt“ erfand, wieder Krieg. Die mit vielen wohlklingenden Versprechungen angekündigte „kurdische Initiative“ der AKP-Regierung sei ein „Scherbenhaufen“, schrieb Ekrem Eddy Güzeldere in der Neuen Zürcher Zeitung vom 29.07.2010 („Die ‚kurdische Initiative‘ – ein Scherbenhaufen„).

Der heute seit 26 Jahren andauernde Krieg gegen die Kurden wird fortgesetzt. Eigentlich würde sich die Öffentlichkeit im Westen dafür genauso wenig interessieren wie in der Vergangenheit – wenn nicht jetzt eine erschreckende Nachricht die Gemüter erregt hätte: Das türkische Militär habe im Kampf gegen die PKK offenbar Chemiewaffen eingesetzt. Das türkische Außenministerium bestreitet dies natürlich: Als Unterzeichnerstaat der Chemiewaffenkonvention verfüge die türkische Armee in ihrem Arsenal über keine biologischen oder chemischen Waffen.

Kann es in den Gefängnissen eines Staates, der die UN-Antifolterkonvention unterzeichnet hat, Folter geben? Nein, in türkischen Gefängnissen kann es keine Folter geben; Muslime können nach Erdogans Überzeugung keinen Völkermord begehen; die türkischen Streitkräfte sind geschaffen worden, um „Frieden zu Hause, Frieden in der Welt“ durchzusetzen. Und überhaupt: Kann ein Staat, der vom US-Präsidenten ausdrücklich als „starke säkulare Demokratie“ gelobt wurde, solche Verbrechen begehen?

Ob die jetzt bekannt gewordenen schockierenden Dokumente über die neuesten Verbrechen der türkischen Armee dazu führen werden, dass sich die Öffentlichkeit endlich kritisch mit der Politik der Türkei gegenüber den Kurden auseinandersetzt? Einige Ansätze gibt es zumindest in der Presse: Im vergangen Jahr erschien z.B. in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 10.06.2009 ein Artikel von Michael Thumann („Die Toten steigen aus dem Brunnen„), worin er die Ermordung von zehntausenden von Kurden in den neunziger Jahren als „Kriegsverbrechen“ und „Staatsverbrechen“ der Türkei bezeichnete.

Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth, die sich bekanntlich mit Kritik an der Türkei sehr zurückhält, sagte: „Die neuerlichen Ereignisse sind so eklatant, dass die türkische Seite sie dringend aufklären muss“. „Der beste Weg dazu ist sicherlich“, so die Meinung des CDU-Bundestagsabgeordneten Ruprecht Polenz, „dies unter internationaler Beteiligung zu tun.“ Eine Aufklärung forderte auch die SPD-Politikerin Uta Zapf. Falls die türkischen Streitkräfte tatsächlich Chemiewaffen eingesetzt haben sollten, dann würde dies „einen eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht darstellen“, sagte Zapf. Würde es die Türkei überhaupt geben, wenn ihre Gründer nicht gegen das Völkerrecht verstoßen hätten? Und könnte dieser Staat existieren, wenn er nicht ständig gegen das Völkerrecht verstoßen würde?

Toros Sarian