Am 14. Dezember 2007 befassten sich die Regierungschefs der EU- Staaten auf ihrem Gipfeltreffen in Brüssel mit der Frage des EU-Beitritts der Türkei. Verschiedene armenische Verbände – zumeist der ARF (Daschnakzutiun) nahe stehend – hatten für diesen Tag zu einer Demonstration in der belgischen Hauptstadt aufgerufen, um zu verlangen, dass die EU bei den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei darauf besteht, dass die türkische Regierung den Völkermord an den Armeniern anerkennt.
Immerhin hatte das Europäische Parlament bereits im Juni 1987 einen Beschluss gefasst, in dem festgestellt wurde, dass „die tragischen Ereignisse, die 1915-17 stattgefunden und sich gegen die Armenier des Osmanischen Reiches gerichtet haben, Völkermord im Sinne der von der Vollversammlung der UNO am 9. Dezember 1948 angenommenen Konvention zur Verhinderung und Verfolgung des Völkermordverbrechens sind.“ In der Resolution wurde die Weigerung der Türkei, das Verbrechen an den Armeniern anzuerkennen, als ein „unüberwindbares Hindernis für die Prüfung eines etwaigen Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft“ bezeichnet. Seitdem hat das Europäische Parlament in mehreren Beschlüssen die Europäische Kommission und den Rat der EU aufgefordert, die Türkei dazu zu bewegen den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen und die Blockade der Republik Armenien zu beenden.
Im Dezember 2004 forderte das EP die Türkei auf, „den Aussöhnungsprozess mit dem armenischen Volk durch Anerkennung des Völkermords an den Armeniern voranzutreiben, wie dies in den früheren Entschließungen des Parlaments im Zusammenhang mit dem Kandidatenstatus der Türkei (vom 18. Juni 1987 bis 1. April 2004) zum Ausdruck kam.“ Von der Kommission und dem Rat der EU verlangten die Abgeordneten, „im Einklang mit den Entschließungen, die es von 1987 bis 2004 angenommen hat, von den türkischen Behörden die offizielle Anerkennung der geschichtlichen Realität des Völkermords an den Armeniern im Jahre 1915 sowie die schnelle Öffnung der Grenze zwischen der Türkei und Armenien zu fordern.“ Im September 2005 appellierten die Abgeordneten erneut an die Türkei, „den Völkermord anzuerkennen“. Das EP „betrachtet diese Anerkennung als eine Voraussetzung für den Beitritt zur Europäischen Union“, heißt es in der Entschließung. Inzwischen kann man einen deutlichen Wandel im EP erkennen: In der Entschließung vom 24. Oktober 2007 wurde die Türkei lediglich aufgefordert, eine “ehrliche und offene Diskussion über Ereignisse in der Vergangenheit” zu führen. Die türkische und die armenische Regierung müssten einen “Prozess der Aussöhnung” einleiten. Ein Änderungsantrag, in dem von der Türkei gefordert wurde, den Völkermord an den Armeniern offiziell einzugestehen, fand im Plenum keine Mehrheit.
Während sich die armenischen Verbände in Brüssel kaum noch Gehör verschaffen können, gewinnt die Türkei-Lobby zunehmend an Einfluss. Es sind nicht zuletzt türkischstämmige Abgeordnete aus Deutschland, die sich in den vergangenen Jahren intensiv darum bemühen, die Forderung nach Anerkennung des Völkermordes aus den Beschlüssen zu entfernen. Der bekannte Reiseunternehmer Vural Öger sitzt als Abgeordneter der SPD im Auswärtigen Ausschuss des EP und betreibt dort Politik zugunsten der Türkei. Ähnlich agiert auch Cem Özdemir von den Grünen, der ebenfalls im Auswärtigen Ausschuss des EP sitzt. Die Türkei hat längst erkannt, dass die zunehmende Zahl türkischstämmiger Politiker im EP und in den nationalen Parlamenten der EU-Staaten für die Durchsetzung der Politik der Türkei nützliche Dienste erweisen kann. Die türkischstämmigen Abgeordneten sind überwiegend Mitglieder sozialdemokratischer Parteien oder der Grünen. Selbst in der Bundestagsfraktion der Linken befindet sich mit dem Ex-SPD Politiker Hakki Keskin ein treuer Vertreter der Interessen des türkischen Staates. Geduldet von seinen „linken“ Genossinnen und Genossen hat er sich im Kampf gegen die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern hervorgetan und propagiert offen die völkerrechtliche Anerkennung des durch die Türkei besetzten Teils Zyperns.
Absurder kann die politische Lage nicht sein: In den Parteien, die vorgeben, für die Einhaltung der Menschen- und Minderheitenrechte einzutreten, tummeln sich Lobbyisten der türkischen Staatspolitik. Sie sorgen dafür, dass eine Kritik an der Politik der Türkei abgeblockt wird. Wer die Politik der Türkei kritisiert, Forderungen wie die Anerkennung des Genozids auf die Tagesordnung bringt und eine konsequente Einhaltung der Beschlüsse des EP fordert, läuft Gefahr sofort als „Rechter“ abgestempelt zu werden. Praktisch sind heute die „linken“ Parteien zu Interessenvertretern eines Staates geworden, in dem sich kritische Intellektuelle und Journalisten nur noch mit Leibwächter auf die Straße trauen. Nach der anfänglichen Empörung über den Mord an Hrant Dink sind die Euro-Politiker wieder zur Tagesordnung übergegangen. Die offensichtlichen Defizite im Bereich der Menschen- und Minderheitenrechte werden einfach verharmlost und runtergespielt, um der Türkei den Weg in die EU zu ebnen. Von einer Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern ist keine Rede mehr. Im Mai dieses Jahres nahm das EP eine Entschließung zu dem Fortschrittsbericht über die Türkei an, worin die türkische und die armenische Regierung aufgefordert wurde, „einen Prozess der Versöhnung einzuleiten, der sich sowohl auf die Gegenwart als auch auf die Vergangenheit bezieht und eine ehrliche und offene Diskussion über Ereignisse in der Vergangenheit ermöglicht“. Die Kommission solle dazu beitragen „diesen Versöhnungsprozess zu erleichtern“.
Europäisches Parlament, EU-Kommission und der Rat der EU sind sich heute darüber einig, dass die Anerkennung des Völkermordes bei den Verhandlungen mit der Türkei keine Rolle mehr spielen soll. Alle Beschlüsse, die zwischen 1987 und 2005 angenommen wurden, sind inzwischen Makulatur. Die Türkei hat auch nach Aufnahme der Beitrittsverhandlungen ihre Leugnungspolitik fortgesetzt. Gleichzeitig ist deutlich geworden, dass sich die EU innerhalb kurzer Zeit der türkischen Position angenähert hat. Dies ist natürlich besonders bitter für die armenischen Organisationen, die seit Jahren darum kämpfen, dass die Anerkennung des Völkermordes auf der Tagesordnung der europäischen Politik bleibt und die Türkei gedrängt wird, dieses Verbrechen anzuerkennen. Am härtesten trifft die Entwicklung in Brüssel sicher die „Europäische Armenische Föderation für Gerechtigkeit und Demokratie“ – eine der ARF (Daschnakzutiun) nahe stehende Organisation in Brüssel. Angesichts des zunehmenden Einflusses der türkischen Lobby und der zunehmenden Zahl türkischstämmiger Abgeordneter im EP und in nationalen Parlamenten, die im Sinne der Türkei Politik betreiben, steht die armenische Gemeinschaft in der EU vor einer schweren Herausforderung. Es sollte allen inzwischen klar sein, dass eine Fortsetzung der bisherigen Politik wenig Sinn hat. Wenn die armenischen Verbände und Parteien diese Politik trotzdem fortsetzen, dann sollten sie sich nicht wundern, wenn ihr nächster Demonstrationsaufruf bei der armenischen Gemeinschaft auf noch weniger Resonanz stößt.
Toros Sarian
04.07.2008