Das 1949 geschaffene parlamentarische System in der Bundesrepublik beruhte darauf, dass jeweils eine der großen „Volksparteien“ an der Regierung war und die andere sich als Opposition inszenieren konnte – bis sie später an die Reihe kam. Die FDP spielte die Rolle als Zünglein an der Waage und gewann so relativ großen Einfluss.
Die erste Koalition zwischen CDU/CSU und der SPD dauerte von 1966 bis 69. Seit 2005 wird Deutschland mit einer Unterbrechung wieder von einer Großen Koalition regiert, die auch als Regierung der nationalen Einheit und Wohlfahrt bezeichnet werden könnte. Es mehren sich allerdings die Anzeichen für ihr Ende. Das politische Gefüge hat sich in den vergangenen Jahren vor allem durch den rasanten Aufstieg der AfD, die Erfolge der Grünen und dem Niedergang der SPD verändert.
Nachdem die Grünen in den 80er-Jahren die politische Bühne betraten und in den Bundestag einzogen, wurden neue Regierungsbündnisse möglich. Nach der „Wiedervereinigung“ kam mit der PDS bzw. „Die Linke“ eine neue Fraktion in den Bundestag, die lange Zeit ausgegrenzt und gemieden wurde. Besonders für die SPD ist sie – auch in Westdeutschland – eine ernsthafte Konkurrentin. Die politischen Verhältnisse waren bis vor wenigen Jahren klar aufgeteilt: Linke, Sozialdemokraten, Liberale, Grüne und Christdemokraten. Mit der AfD ist dieses Gefüge ins Wanken gekommen.
Die NPD und die Republikaner konnten sich nicht durchsetzen, aber beim dritten Anlauf ist es den deutsch-nationalen Kräften schließlich gelungen, die für sie günstige Situation auszunutzen und sich mit der AfD im politischen System zu etablieren. Bemerkenswert ist vor allem, dass eine rassistische, rechte Partei auf Anhieb stärkste Oppositionsfraktion im Bundestag werden konnte. Sie werden dort zwar politischen Paria betrachtet, aber sie scheinen damit keine Probleme zu haben.
Fragile Front gegen rechts
Die Reaktion auf das Erstarken der AfD ist ebenfalls bemerkenswert: Noch nie gab es in der Bundesrepublik Deutschland eine so breite Front gegen Rassisten und „Rechte“. Manche führenden Christdemokraten zeigen sich in der Frage der AfD offen für eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei. Daniel Günther, der christdemokratische Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, sagte, dass trotz gegensätzlicher politischer Positionen die Linke nun nicht mehr ausgegrenzt werde. Der gemeinsame Gegner stehe rechts.[1]
An der „Basis“ der SPD, CDU und FDP scheinen manche die Sache etwas anders zu sehen. Mit den Stimmen der Vertreter dieser drei Parteien wurde in Altenstadt ein führender Funktionär der hessischen NPD zum Ortsvorsteher gewählt. Wie zu erwarten war, gab es danach große Empörung: Der niedersächsische Innenminister Pistorius (SPD) nannte die Wahl des NPD-Kandidaten ein „verheerendes Signal“, SPD-Generalsekretär Klingbeil bezeichnete die Entscheidung in Altenstadt als „unfassbar und mit nichts zu rechtfertigen“. Kritik kam auch von der CDU: Ziemiak zeigte sich „absolut fassungslos“ und nannte den Vorgang eine „Schande“. „Wem der politische und moralische Kompass fehlt und (wer) als Demokrat eine solche verantwortungslose Wahlentscheidung trifft, ist in der CDU und auf einer CDU-Wahlliste untragbar“, befand sein Parteifreund Peter Tauber.[2] Wenn sogar ein NPD-Vertreter in ein Amt gewählt wird, dann hat die seit Jahren andauernde Debatte um die AfD und den wachsenden Rassismus offenbar zu keiner politischen Sensibilisierung geführt. Zudem ist die „Schande“ nicht in Ostdeutschland passiert, sondern in Hessen, das traditionell als eher linkes Bundesland gilt.
Der Abstand zwischen Teilen der CDU/CSU und der AfD ist aber gar nicht so groß, wie es von der Parteiführung dargestellt wird. Vor allem in Ostdeutschland werden die Christdemokraten die Abgrenzungspolitik gegenüber der AfD nicht sehr lange fortsetzen können. Nichts deutet darauf hin, dass die Wähler vom „rechten Irrweg“ abkommen und wieder für die “demokratischen Parteien“ stimmen. Die AfD wird wohl nicht wie erhofft als ein vorübergehender, ärgerlicher Ausrutscher in die deutsche Geschichte nach der „Wiedervereinigung“ eingehen. Der latente, subtile Rassismus gehört inzwischen der Vergangenheit an; deutsch-nationales Gedankengut kann offen propagiert werden.
Den beamteten Gymnasiallehrer und AfD Politiker Björn Höcke dürfte es kaum beunruhigen, dass er als Faschist bezeichnet werden kann. Das entsprechende Urteil eines Verwaltungsgerichts mag wie ein Sieg seiner Gegner erscheinen, klar ist aber nun auch, dass es in Deutschland wieder faschistische Abgeordnete gibt.[3] Wenn die AfD unter Höcke bei der bevorstehenden Landtagswahl in Thüringen ein gutes Wahlergebnis erzielen sollte, dann würde das den Führer des „Flügels“ beflügeln seinen Kurs fortzusetzen.
Isolieren oder integrieren?
Die relativ lange Phase der wirtschaftlichen Prosperität neigt sich ihrem Ende entgegen. Wenn es zu einer ernsthaften ökonomischen Krise kommen sollte, wird sich die Mittelschicht – die Basis des bürgerlichen Lagers – neu orientieren. Dass ihr politischer Kompass nicht nach links zeigen wird, dürfte klar sein. Die AfD versucht sich inzwischen als „nationale Kraft des bürgerlichen Lagers“ zu präsentieren.
Seitens der politischen Vertreter des bürgerlichen Lagers wird so getan, als ob eine Zusammenarbeit mit der AfD nie in Betracht gezogen werden könnte. Die Beispiele FPÖ und Lega zeigen jedoch, dass auch mit „Rechtspopulisten“ Regierungskoalitionen möglich sind. In Frankreich sieht die Lage anders aus: Die FN ist zwar stark, aber bislang konnte sie von einer Regierungsbeteiligung ferngehalten werden. Trotzdem hat die Partei viele Wähler, die auch dann für sie stimmen, wenn sie wissen, dass sie kaum Chancen hat, an die Regierung zu gelangen.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die AfD – ähnlich wie die FN – trotz Boykott durch die anderen Parteien zumindest als Oppositionspartei langfristig eine Rolle spielen wird. Wenn sie bundesweit nicht nur zwischen 10 und 15 % der Stimmen erhält, sondern zwischen 15 und 20 %, dann wird die Lage wesentlich komplizierter als heute. Es sind zwar verschiedene Kombinationen aus mehreren Parteien möglich, um eine Regierung zu bilden; in einer aus drei Parteien bestehenden Regierungskoalition wird es aber schwieriger, bei strittigen Fragen einen Konsens zu finden.
Wer zählt künftig zum bürgerlichen Lager?
Im Oktober 2018 hatte der CSU-Politiker Alexander Dobrindt in der „Maybrit Illner“ Talkshow durchblicken lassen, dass er die AfD zum „bürgerlichen Lager“ zählt.[4] Nach den Wahlen in Sachsen und Brandenburg erwähnte die Moderatorin der MDR-Wahlsendung die Möglichkeit einer „bürgerlichen Koalition“ aus CDU und AfD. [5] Solche Äußerungen geben zumindest Raum für Spekulationen, ob nicht bereits heute über eine neue Zusammensetzung des „bürgerlichen Lagers“ nachgedacht wird. Hans-Georg Maaßen und die Christdemokraten der Werteunion sind mit ihren Positionen sicherlich nicht allzu weit entfernt von denen der AfD.
Das politische Gefüge ist mit dem Erstarken der AfD in Bewegung gekommen, und in den kommenden Jahren könnte das Realität werden, was bereits in unbedachten Äußerungen ausgesprochen wurde: Die Einbindung der AfD in das „bürgerliche Lager“, um eine Alternative zu Koalitionen mit der SPD und den Grünen zu schaffen. Wenn die Parteien des „bürgerlichen Lagers“ ihre Abgrenzungspolitik gegenüber der AfD aufgeben sollten, dann stellt sich für das „linke Lager“ die Frage, wie es darauf reagiert.
Toros Sarian
[1] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bodo-ramelow-und-daniel-guenther-zeit-der-ausgrenzung-ist-vorbei-a-1271775.html
[2] https://www.tagesspiegel.de/politik/neonazi-zum-ortsvorsteher-in-hessen-gewaehlt-rueckgaengig-machen-und-zwar-schnell/24991234.html
[3] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bjoern-hoecke-darf-als-faschist-bezeichnet-werden-gerichtsurteil-zu-eisenach-a-1289131.html
[4] https://www.fr.de/kultur/tv-kino/alexander-dobrindt-zaehlt-buergerlichen-lager-10950545.html
[5] https://www.welt.de/politik/deutschland/article199533240/CDU-und-AfD-als-buergerliche-Koalition-bezeichnet-MDR-entschuldigt-sich.html
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