„Lust auf Deutschland“ stand ganz groß der ersten Seite der am 22. Juni gratis verteilten Sonderausgabe der Bild Zeitung zu lesen. Die inzwischen seit 65 Jahren erscheinende Zeitung wollte nicht nur auf ihren Geburtstag aufmerksam machen, sondern auch daran erinnern, wie sehr „uns die Welt um unsere Wirtschaft, unsere Kultur und unsere politische Stabilität beneidet.“
Es hätten auch einige andere Fragen angesprochen werden können, die weniger beneidenswert und rühmlich sind: die von Deutschland entfachten zwei Weltkriege; der Völkermord an den Herero und Nama; die deutsche Mitschuld am Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich oder der Holocaust an den europäischen Juden. Also alles Dinge, bei denen die Lust auf Deutschland eher vergeht – wenn man sich denn daran erinnert.
Und auch was die deutsche Wirtschaft betrifft, sieht es in letzter Zeit nicht so rosig aus: Der Motor der deutschen Wirtschaft, die Automobilindustrie, ist durch die skandalösen Manipulationen von VW in die Schlagzeilen geraten; manchen ihrer Manager drohen hohe Haftstrafen in den USA. Durch Dieselgate wurde das gute Image deutscher Autos nicht nur in den USA schwer angekratzt, sondern selbst in Deutschland schwindet das Vertrauen in die Vorzeigeindustrie.[1] Rudolf Diesels Erfindung wird wohl nicht als Glanzleistung deutscher Ingenieurskunst in die Geschichte eingehen, sondern eher als eine Erfindung mit katastrophalen Folgen. Die Befürchtung, dass der Niedergang der „Made in Germany“ Autos sich negativ auf das Wohlbefinden der heiligen deutschen Wirtschaft auswirken könnte, ist auch für Politiker ein Horrorszenario.[2]
Nachdem der Verdacht aufgekommen ist, dass es über viele Jahre hinweg auch noch geheime Absprachen zwischen den Konzernleitungen der großen Autohersteller und sogar ihrer Zulieferer gab, hat das Vertrauen in „Made in Germany“ noch weiter abgenommen. Jetzt versuchen Politiker, die Lobby der Autohersteller und ihre mächtigen Konzernchefs zu retten, was noch zu retten ist. Aber es ist inzwischen deutlich geworden, dass „Made in Germany“ nur noch ein Mythos ist, an den immer weniger Menschen glauben.
Die Bild-Sonderausgabe verdeutlicht die sich ausbreitende Arroganz und Überheblichkeit in Deutschland: Journalisten finden großes Gefallen daran, sich mit dem Dauerthema Trump und seiner Regierung zu beschäftigen; und die Zeitungsredaktionen erhalten jeden Tag genügend Nachrichten-Nachschub aus Washington, um sich genüsslich über die Führung einer Weltmacht lustig zu machen. Der unterschwellige und latente Antiamerikanismus war gestern, seit Trump kann man seine Meinung offen sagen. Die unterschwellige Botschaft lautet: Deutschland wäre doch eigentlich eine bessere Weltmacht; wir Deutschen könnten die Menschheit vor den drohenden Katastrophen bewahren und nicht die USA!
Auf Platz zwei der westlichen Politstümper avancierte die britische Premierministerin May, die ebenfalls eine ideale Zielscheibe abgibt. Mit der Kanzlerin kann man eine weitaus fähigere Regierungschefin präsentieren. Und überhaupt: den Engländern hat man nie vergeben, dass sie sich von Deutschland nicht besiegen ließen, während Frankreich sich gleich zweimal der deutschen Macht beugen musste. Für Berlin war es bereits ärgerlich, dass die Briten an ihrer Währung festgehalten hatten; nun kehren sie der EU – oder genauer gesagt – Deutschland den Rücken zu.
Braucht die Welt eine deutsche Führerin?
Im Osten ist Putin der ideale Bösewicht: klug, verschlagen und gefährlich. Kim Il-Sung, der als Bilderbuch-Diktator auch immer wieder Stoff für einen Artikel oder Bericht lieferte, ist inzwischen von Erdoğan überholt worden. Die widerspenstigen Griechen, Tsipras und seine „Linke“, konnten von der deutschen Regierung gezähmt werden. Inzwischen interessieren sich weder die bürgerlichen noch die linken Zeitungen für sie; die Akte Griechenland ist – zumindest zeitweilig – geschlossen worden. Die „linke“ Regierung in Athen setzt brav die Vorgaben aus Berlin und Brüssel um.
Bis auf Macron herrschen aus deutscher Sicht überall unfähige Politiker und Diktatoren; überall stagniert die Wirtschaft, herrscht hohe Erwerbslosigkeit und politische Instabilität – nur nicht im ewigen Wirtschaftswunderland Deutschland. Doch ob der Sonnyboy im Elysee-Palast die strukturellen Wirtschaftsprobleme lösen kann, ist fraglich. Jedenfalls zeigen die Umfragen, dass er sehr schnell an Popularität verliert.[3] Und wenn man bedenkt, dass weniger als 50 % Stimmberechtigten an der Präsidentschaftswahl teilgenommen haben, dann kann der Rückhalt für Macron nicht sehr groß sein. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die politische Seifenblase Macron platzen wird.
Die Achse Berlin-Paris steht jedenfalls auf wackligen Füßen, denn die vom neuen Staatspräsidenten geplanten „Reformen“ werden sicherlich auf Widerstand innerhalb der französischen Gesellschaft stoßen. Die möglichen Folgen von wirtschaftlichen und finanziellen Turbulenzen in Frankreich oder Italien werden weitaus schwieriger zu bewältigen sein, als die in Griechenland. Deutschland wird dann nicht so auftreten können, wie im Falle Griechenlands, denn Macron und Frankreich sind nicht zu vergleichen mit Tsipras und Griechenland.
Deutschland ist zwar keine Weltmacht, aber angesichts der internationalen Lage spielt die Bundeskanzlerin inzwischen eine beachtliche Rolle auf der Politikbühne. Bereits nach der Wahl von Trump zum US-Präsidenten hatte die „New York Times“ die Kanzlerin zur „Führerin der freien Welt“ ausgerufen. Auf ihrer Südamerika-Reise im Juni wurde diese Bezeichnung erneut aufgegriffen.[4] Gerade die Süd- und Mittelamerikaner, die Trump mit einer Mauer von den USA fernhalten will, sehen in Merkel ein politisches Gegengewicht zu dem Gringo nördlich des Rio Grande. Mit ihrer Warnung, die Fähigkeiten Deutschlands zu überschätzen, beurteile Merkel das Potenzial Deutschlands wohl zutreffen.[5]
Deutschlands EU-Traum zerplatzt
Griechenland, der Brexit, die eingefrorene EU-Erweiterung und jetzt die neue Türkei-Politik sind vier Entwicklungen, die vielleicht auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Aber genaugenommen verdeutlichen sie das Scheitern der deutschen Ambitionen in Europa. Es lag insbesondere im deutschen Interesse, die EU zu einem wichtigen Machtfaktor auf internationaler Ebene aufzubauen, um so ihre eigenen Interessen weltweit besser durchsetzen zu können. Inzwischen ist deutlich geworden, dass europäische Integration genauer betrachtet eins bedeutet: eine EU unter deutscher Führung. Berlin hat seinen Führungsanspruch lediglich europäisch verpackt; dies haben inzwischen alle anderen EU Mitglieder begriffen.
Die innerhalb der EU bestehende Achse Berlin-Paris wurde in London immer mit Argwohn betrachtet. Das Gegenstück dazu war bzw. ist die transatlantische Achse London-Washington. Dass Großbritannien seine eher zweitrangige Stelle in der EU gekündigt hat, ist insofern nicht überraschend. Da sie sich politisch und wirtschaftlich neu ausrichten können, birgt der Brexit kein so großes Risiko für sie, wie es in der deutschen Presse oft dargestellt wird. Das Britische Empire ist zwar untergegangen, aber die Briten haben bis heute besondere Beziehungen zu Ländern wie Kanada, Australien, Neuseeland und zu den USA. Das globale angelsächsische Bündnis findet ihren Ausdruck in der engen geheimdienstlichen Zusammenarbeit, dass durch die Enthüllungen von Snowden als das „Five Eyes“ Bündnis bekannt wurde.
Deutschland und Frankreich zählen eben nicht zu diesem exklusiven Geheimdienst-Bündnis. Die französische Regierung wird die Angelegenheit gelassener betrachten, aber für Berlin dürfte es eine demütigende Erfahrung sein, dass sie so einfach von ihren „Bündnispartner“ abgehört und überwacht werden. Der „Sicherheitsapparat“ und Geheimdienste dienen längst nicht mehr nur dazu, um politisch-militärische Informationen über den „äußeren Feind“ zu sammeln. Die Kontrolle des weltweiten Datenverkehrs bildet eine wichtige Säule der Macht. Den Ambitionen Deutschlands, das kein Mitglied des exklusiven Klubs der Datenschnüffler ist, sind somit Grenzen gesetzt – von ihren eigenen „Freunden“.
EU-Erweiterung und der EU-Beitritt der Türkei
Die inzwischen eingefrorene EU-Erweiterung gehörte einst zu Berlins zentralen Vorhaben in der EU. Eingebettet in die Außenpolitik der EU sollte damit der deutsche Einfluss allmählich nach Osten und Süden ausdehnen werden. Die Türkei gehörte zu den Lieblingskandidaten Berlins und insbesondere der deutschen Wirtschaft. Sowohl innerhalb der Koalition als auch bei anderen EU-Regierungen bestanden allerdings Bedenken: wie sollte ein so großer Brockens verdaut werden?
Berlins in die EU-Politik verpackte Strategie knüpfte da an, wo die Expansionspolitik Deutschland bereits Ende des 19. Jahrhunderts begonnen hatte. Das mit der Kapitulation im 1. Weltkrieg gescheiterte Bagdad-Bahnprojekt sollte fortgesetzt und über die Türkei schließlich doch noch der Zugang in den Nahen Osten erreicht werden; denn ein wirklicher „Global Player“ ist, wer auch im Nahen Osten Einfluss hat.
Der Bau der Bagdad-Bahn gilt als Symbol für die deutsche Expansion im Nahen Osten. Die 2005 eingeleiteten Beitrittsverhandlungen mit der Türkei haben sich aber nicht als Beginn der Wiederbelebung Projekts erwiesen. Die neue Türkei-Politik bedeutet nichts anderes als das Eingeständnis des Scheiterns dieses Vorhabens. Die über viele Jahre hinweg von Berlin hochgelobte und als eine Art CDU der Türkei dargestellte AKP hat offenbar keine Lust, die ihr von Deutschland zugedachte Rolle zu spielen; und ohne eine Unterstützung der Türkei kann sich Deutschland im Nahen Osten nicht gegen die angelsächsische Achse Washington-London, Frankreich und Israel durchsetzen.
Ankara versucht seine eigene außenpolitische Agenda lieber in „Verhandlungen“ mit diesen Kräften und Russland zu realisieren. Die Türkei kann zwar nicht zu einer Weltmacht werden wie einst das Osmanische Reich, aber sie ist zumindest eine Regionalmacht, die im Nahen Osten und auch im Südkaukasus eigene Interessen und Ziele verfolgt. Dabei geht sie wie immer sehr pragmatisch vor und setzt nicht alles auf eine Karte, wie es 1914 das jungtürkische Regime getan hatte.
Angesichts der ständigen Beleidigungen und Provokationen gerade gegenüber Berlin stellt sich die Frage, warum die türkische Regierung ausgerechnet den traditionellen Verbündeten so heftig attackiert und nicht stattdessen z. B. Frankreich, das den Genozid bereits 2001 anerkannt hatte und wo 500.000 armenisch stämmige Franzosen leben, die neuerdings auch mit vier Abgeordneten in der Nationalversammlung vertreten sind. Nicht Frankreich oder Großbritannien sind zur Zielscheibe der Erdogan-Regierung geworden, sondern – aus deutscher Sicht völlig unverdient – ausgerechnet Deutschland. Ankara hat ganz bewusst und gezielt eine Eskalationspolitik gegenüber Deutschland betrieben; die der Regierung nahestehende Presse hat dabei insbesondere Merkel ins Visier genommen.[6]
Es hat lange gedauert, bis die deutsche Regierung die für sie bittere Realität akzeptiert hat, dass Ankara nicht bereit ist, ihr als Brücke in den Nahen Osten zu dienen. Somit sind die politischen und militärischen Ambitionen Deutschlands in der Region nicht durchsetzbar. Mit viel Getöse hat Bundesaußenminister schließlich eine „Wende in der Türkei-Politik“ verkündet.[7] Aber genaugenommen ist diese „Wende“ nicht mehr als die verärgerte Reaktion über eine empfindliche politische Abfuhr: Deutschland, das sich seit Zeiten Kaiser Wilhelms II. immer wieder als enger Verbündeter der Türkei hervorgetan hat, ist enttäuscht darüber, dass Ankara ihr die kalte Schulter gezeigt hat.
Einfluss auf die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen wird diese mit viel Getöse verkündete „Wende“ nicht haben, denn für die deutschen Konzerne ist die Türkei mit seinen über 80 Millionen Einwohnern ein bedeutender Markt. Genauso ist die AKP-Regierung an einem Ausbau der Handelsbeziehungen interessiert.
Mehr Schein als Wirklichkeit
Anbetracht der Realitäten stellt sich die Frage, wer denn überhaupt außerhalb Deutschlands Lust auf dieses Land hat. Bei den osteuropäischen Nachbarn, wo meist rechtspopulistische Regierung an der Macht sind, herrscht genauso eine Abneigung gegenüber Deutschland wie in den südlichen EU-Ländern, wo Linke an der Regierung sind oder zumindest einen Rückhalt in der Bevölkerung haben. Die höchst gereizte Stimmung zwischen Berlin und Athen während der Verhandlungen um die „Sanierung“ Griechenlands ist dafür ein Beispiel.
Nachdem die Reparationsforderungen aus Athen inzwischen verstummt sind, kommt diese Forderung nun aus Warschau.[8] Die meist von rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien gelenkten osteuropäischen Regierungen werden – trotz aller Drohungen aus Brüssel – die ihnen zugewiesenen Flüchtlingskontingente wahrscheinlich nicht aufnehmen. Dass also die „Lust auf Deutschland“ außerhalb der Grenzen dieses Landes eher gering ist, kann nicht verwundern.
Das von der Bild-Zeitung retuschierte Bild Deutschlands verbirgt also manches, was in den kommenden Jahren nach und nach zum Vorschein kommen wird. Bis zu der bevorstehenden Bundestagswahl im September muss der trügerische Schein noch strahlend leuchten und die Lust auf Deutschland – zumindest im eigenen Land – nicht nachlassen, damit die „Führerin der freien Welt“ wieder regieren kann.
Toros Sarian
Fußnoten:
[1] http://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/index.html
[2] https://www.welt.de/debatte/kommentare/article148450613/Autogate-schwaecht-die-deutsche-Wirtschaft.html
[3] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/macron-verliert-deutlich-an-zustimmung-15118606.html
[4] http://www.rp-online.de/politik/ausland/argentinien-angela-merkel-lehnt-die-rolle-der-fuehrerin-der-freien-welt-ab-aid-1.6873140
[5] https://www.welt.de/politik/deutschland/article165412794/Das-Argument-mit-der-Nazi-Vergangenheit-zieht-nicht-mehr.html
[6] https://www.derwesten.de/politik/tuerkische-zeitung-zeigt-merkel-mit-hitler-bart-und-nazi-gruss-id209889625.html
[7] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1058016.aussenminister-gabriel-kuendigt-wende-in-tuerkei-politik-an.html
[8] http://www.zeit.de/news/2017-07/28/deutschland-kaczynski-bringt-reparationsforderungen-deutschlands-an-polen-ins-gespraech-28133003