Als Ende September 2020 Aserbaidschan einen Angriff auf Berg-Karabach begann, mussten die Armenier:innen nach 44 Tagen einem zwischen Putin, Aliyew und Erdoğan ausgehandelten Waffenstillstandsabkommen einwilligen. Gegen die übermächtige, massiv von der Türkei unterstütze, aserbaidschanische Armee hatten sie keine Chance. Russland wird zwar in den westlichen Medien stets als „Schutzmacht“ der Armenier:innen dargestellt, aber spätestens im 44-Tage-Krieg 2020 wurde deutlich, dass die „Schutzmacht“ entweder nicht bereit oder nicht in der Lage war, die Erwartungen der Armenier:innen zu erfüllen. Nachdem die aserbaidschanische Armee den Latschin-Korridor unter ihre Kontrolle gebracht hatte, war die armenische Bevölkerung Berg-Karabachs von der Republik Armenien abgeschnitten. Mit der Stationierung von 2000 russischen Soldaten in die Region, sollte die Einhaltung des auf fünf Jahre befristeten Abkommens überwacht werden. Für die Armenier:innen war wichtig, dass sich der für sie überlebenswichtige Latschin-Korridor unter russischer Kontrolle blieb.
Die Türkei übernimmt Russlands kaukasischen „Hinterhof“
Der ohnehin große türkische Einfluss im Südkaukasus erreichte nach der armenischen Niederlage in Berg-Karabach eine neue Dimension. Sie beschränkt sich nicht nur auf Aserbaidschan, sondern umfasst auch Georgien, das die Rolle eines wichtigen Transitlands eingenommen hat: Über Georgien führen nicht nur zwei Pipelines, sondern auch eine Eisenbahnverbindung zwischen Aserbaidschan und der Türkei. Über die Jahre hinweg hat die Türkei ihre wirtschaftliche, militärische und politische Zusammenarbeit mit Georgien stetig ausgebaut und so die Isolation der Armenier:innen im Südkaukasus vorangetrieben.
Russlands Einfluss im Kaukasus reicht nicht über die Grenzen Abchasiens und Südossetiens hinaus: Abchasien hatte sich 1992/93 mit russischer Unterstützung von Georgien getrennt; das ebenfalls zu Georgien gehörende Südossetien hatte sich mit russischer Unterstützung in einem kurzen Krieg im August 2008 für unabhängig erklärt, was außer von Russland nur von Nicaragua, Venezuela, Nauru und Syrien anerkannt wurde. Als Folge des Krieges im nördlichen Nachbarland wurde die über Abchasien führende Eisenbahnverbindung zwischen der Republik Armenien und Russland unterbrochen.
Das Märchen vom militärischen Gleichgewicht
In einer sich ständig verändernden Welt sind auch „Großmächte“ gezwungen, ihre geopolitischen Interessen und Schwerpunkte neu zu setzen oder anzupassen; als Reaktion auf die globalen oder regionalen Veränderungen bilden sich neue Bündnisse. „Traditionelle“ Verbündete können schnell ihre Bedeutung verlieren, vor allem dann, wenn sie politisch, militärisch und wirtschaftlich zu schwach und bedeutungslos sind, um einem mächtigen Bündnispartner mit weitreichenden geopolitischen Ambitionen nützlich zu sein. Die Unabhängigkeitserklärung 1991 änderte kaum etwas an der Orientierung der Republik Armenien: Das Land trat der von russisch geführten Eurasischen Wirtschaftsunion und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) bei.
Seit 2015 gab es deutliche Anzeichen für eine Neuorientierung der russischen Politik: Während die „strategische Partnerschaft“ mit der Republik Armenien weiterhin betont wurde, verkaufte Russland große Mengen an Waffen an Aserbaidschan.¹ In Jerewan kam es 2016 zu Protestkundgebungen gegen die russisch-aserbaidschanischen Rüstungsgeschäfte. Auch die prorussische Regierung in Jerewan war verärgert, dass Russland größter Waffenlieferant Aserbaidschan wurde. Die russische Führung ignorierte Bedenken und Ängste der Armenier:innen. Medwedew sagte zynisch, dass es doch besser sei, wenn die Kriegsparteien mit russischen Waffen versorgt würden, statt mit Waffen anderer Länder, denn die seien weitaus tödlicher als die russischen. Außerdem würden die russischen Waffenlieferungen das militärische Gleichgewicht stärken. Der russische Ministerpräsident Rogosin nannte die Kritik der Armenier:innen an den russischen Waffengeschäften mit Aserbaidschan „Demagogie“. Hochgerüstet mit russischen Waffen, startete Aserbaidschan im April 2016 einen mehrere Tage andauernden Angriff entlang der Waffenstillstandslinie in Berg-Karabach. Die historische Erfahrung zeigt, dass durch Aufrüstung Kriege nicht verhindert, sondern vorbereitet werden.
Das wachsende Misstrauen gegenüber Russland nahm nach dem verlorenen Krieg im Herbst 2020 zu. Die Armenier:innen hofften trotzdem, dass das bis 2025 geltende Waffenstillstandsabkommen halten würde. Aber es sollte ganz anders kommen: Ab 2021 wurden armenische Militärposten und Ortschaften in der Republik Armenien beschossen. Im September 2022 erreichten diese Angriffe einen Höhepunkt. Das armenische Militär war nach den schweren Verlusten im 44-Tage-Krieg nicht in der Lage, die Angriffe abzuwehren und die Besetzung von Gebieten auf dem Territorium der Republik Armenien zu verhindern. Die Paschinjan-Regierung forderte deshalb die Unterstützung der Militärallianz OVKS. Die schickte lediglich ihren Generalsekretär, der die Lage an der Grenze erkunden sollte. Der angegriffene Bündnispartner erhielt deshalb keine Unterstützung, weil der Grenzverlauf nicht eindeutig demarkiert sei; eine Besetzung armenischen Territoriums könne nicht festgestellt werden. Weder die russische „Schutzmacht“ noch das russisch geführte Militärbündnis OVKS waren bereit, der Republik Armenien militärisch beizustehen.
Nach Ausbruch des Ukraine-Krieges nahm die Gleichgültigkeit Russlands gegenüber ihrem in schwerer Bedrängnis befindlichen „strategischen Partner“ zu. Für die russische Führung war die dramatische Entwicklung in Berg-Karabach und an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze angesichts ihrer eigenen Schwierigkeiten in der Ukraine unwichtig. In Baku und Ankara war man entschlossen, die günstige Lage auszunutzen und nicht bis zum Ablauf des bis 2025 vereinbarten Waffenstillstandsabkommens zu warten. Im Dezember 2022 wurde die Verbindung Berg-Karabachs zur Republik Armenien unterbrochen. Die Passivität der russischen „Friedenstruppe“ während der neun Monate andauernden Blockade bedeutete grünes Licht für einen Angriff auf Berg-Karabach.
Paschinjan appellierte vergeblich an die russische „Schutzmacht“, Aserbaidschan dazu zu bewegen, den Latschin-Korridor freizugeben. Während Russland – wie so oft – erfolglose Gespräche mit der aserbaidschanischen Seite führte, wurde die Versorgungsnot der Bevölkerung Berg-Karabachs immer schlimmer; russische Soldaten verkauften Lebensmittel zu Wucherpreisen an die hungernden Armenier:innen. Moskau gab der Aliyew-Regierung freie Hand in Berg-Karabach; nach 30 Jahren endloser Verhandlungen hatte Aserbaidschan 2020 die militärische Entscheidung herbeigeführt. Für Moskau schien die Zeit gekommen zu sein, die Angelegenheit abzuschließen. Der Einsatz in Berg-Karabach hatte keinen Nutzen, beanspruchte aber militärische Ressourcen, die woanders eingesetzt werden konnten.
Trotz der schweren militärischen Niederlage hatten die Armenier:innen die Hoffnung auf eine Verhandlungslösung der Karabach-Frage nicht aufgegeben. Aber während der neun Monate andauernden Blockade und der völligen Gleichgültigkeit der russischen „Schutzmacht“ war ihnen wohl bewusst geworden, dass Baku eine militärische Entscheidung erzwingen wollte. Der Aufmarsch aserbaidschanischer Truppen entlang der Waffenstillstandslinie hatte den bevorstehenden Angriff absehbar gemacht. Gegen den am 19. September eingeleiteten Großangriff leisteten die armenischen Selbstverteidigungskräfte nur einen Tag lang Widerstand, denn sonst wäre es zu einem gnadenlosen Massaker an den hoffnungslos unterlegenen armenischen Einheiten gekommen.
Zu 99 Prozent mit Russland verbunden und verloren
Auf den ersten Blick erscheint die Haltung der russischen Führung wie eine Reaktion auf die „Samtene Revolution“ von 2018 und die Paschinjan-Regierung. Aber bei genauerer Betrachtung wird erkennbar, dass die Republik Armenien als „strategischer Bündnispartner“ für die Führung in Moskau bedeutungslos geworden ist. Mehr noch: Die Schutzmacht eines kleinen, isolierten und wirtschaftlich unbedeutenden Landes zu sein, kann nicht nur eine kostspielige Angelegenheit werden, sondern sich auch als politisch belastend und hinderlich erweisen. Warum sollte die Frage der Zukunft von 100.000 Armenier:innen in einem kleinen, abgelegenen Gebiet im Südkaukasus für die russische Führung so bedeutsam sein, dass sie sich dort politisch und militärisch bindet? Nach fast 30 Jahren ergebnisloser Lösungssuche war die Karabach-Frage für die Führung in Moskau – und auch für den Westen – zu einer lästigen Frage geworden, der sie sich entledigen wollte. Spätestens während der Blockade des Latschin-Korridors musste den Armenier:innen klar geworden sein, dass ihre „Schutzmacht“ andere, wichtigere Interessen hatte, als die Rettung Berg-Karabachs oder die Verteidigung der Grenzen der Republik Armenien.
In einem Interview mit der Zeitung La Republica sagte Paschinjan, dass Russland sich offensichtlich aus dem Südkaukasus zurückziehen würde. Es sei zudem ein großer Fehler gewesen, sich in der Frage der Sicherheit des Landes ganz auf Russland zu verlassen. „Armeniens Sicherheitsarchitektur war zu 99,999 Prozent mit Russland verbunden, auch was die Beschaffung von Waffen und Munition angeht.“ Paschinjan nannte es einen strategischen Fehler, die Sicherheit des Landes einem einzigen Verbündeten anvertraut zu haben. Wie zu erwarten war, wurde die offene und deutliche Kritik des armenischen Regierungschefs von der russischen Führung zurückgewiesen. Aus ihrer Sicht war die Paschinjan-Regierung für das Desaster in Berg-Karabach verantwortlich.²
Viele Probleme, wenig Handlungsspielraum
Die russische Führung wird sicherlich nicht eingestehen, dass sie im Südkaukasus kaum noch Einfluss besitzt. Sie hat zumindest in der Republik Armenien weiterhin einen großen Einfluss: Im Norden der Republik Armenien gibt es einen russischen Militärstützpunkt und russische Soldaten kontrollieren die Grenze zur Türkei und zum Iran. Es gibt wohl kein anderes Land, das so stark von Russland abhängig ist, wie die Republik Armenien: Die Gasversorgung befindet sich fast gänzlich in russischen Händen; die Geldtransfers der zahlreichen in Russland arbeitenden Armenier:innen sichern den Lebensunterhalt von vielen Familienangehörigen in der Republik Armenien; die Investitionen der in Russland lebenden armenische Unternehmer:innen sind wichtig für die armenische Wirtschaft und Russland ist der wichtigste Handelspartner des Landes.
Die Bindungen des Landes zu Russland sind so umfangreich und wichtig, dass sie nicht einfach gekappt werden können. Russland hat weiterhin Mittel und Möglichkeiten, um Druck ausüben zu können: Eine Unterbrechung der Transportroute über den georgisch-russischen Grenzübergang würde den lebenswichtigen Handel mit Russland beeinträchtigen und zu einer Versorgungskrise führen; die Gaslieferung einzustellen, zu reduzieren oder zu verteuern würde sich ebenfalls sehr hart auswirken, denn viele Fahrzeuge werden mit Gas betrieben und viele Wohnungen mit Gas beheizt. Zudem müssen jetzt 100.000 Flüchtlinge aus Berg-Karabach versorgt und untergebracht werden, was angesichts der begrenzten Ressourcen des Landes eine schwierige Aufgabe ist.
Die Armenier:innen sind gegenwärtig nicht nur mit der existenziellen Frage der Verteidigung des Landes gegen die expansionistische Politik Aserbaidschans und der Türkei konfrontiert, sondern auch mit der Frage, wie die Abhängigkeit von Russland verringert werden könnte. Dabei müssen sie darauf achten, dass sie sich nicht blind auf neue, vermeintliche Beschützer verlassen. Wenn sich die Auseinandersetzung zwischen der Paschinjan-Regierung und der überwiegend prorussisch orientierten Opposition zuspitzen sollte, könnte sich die ohnehin dramatische Lage noch zusätzlich verschärfen.