Der Historiker Dr. Nikolaus Brauns äußert sich im Interview über die Rolle Deutschlands beim Völkermord an den Armeniern, die Entwicklung seit dem Bundestagsbeschluss vom Juni 2005 und die Aussichten, wie 2015 das Thema Völkermord im Osmanischen Reich erneut auf die politische Tagesordnung gebracht werden könnte.
Toros Sarian: Das Europäische Parlament hat bereits 1987 den Genozid an den Armeniern anerkannt, auch verschiedene nationale Parlamente in Europa und außerhalb Europas haben dies getan; aber in Deutschland kam das Thema erst 2005 auf die Tagesordnung des Bundestags. Warum hat es so lange gedauert, bis auch Deutschland sich der Frage des Genozids an den Armeniern gestellt hat?
Nikolaus Brauns: Deutschland hatte, wie es in der Bundestagsresolution heißt, während des Genozids eine unrühmliche Rolle gespielt. Oder man könnte besser sagen, Deutschland hat geschwiegen, während das Osmanische Reich, die jungtürkische Führung als engster Kriegspartner diesen Genozid begangen haben. Einzelne deutsche Offiziere und Beamte der Bagdad-Bahn waren sogar aktiv beteiligt: durch Deportationsbefehle, durch die Beschießung armenischer Viertel und dergleichen. So etwas ist natürlich nichts, womit sich die deutsche Politik und auch die deutsch Öffentlichkeit besonders gerne beschäftigt.
Auch dass es inzwischen eine breite Beschäftigung mit dem Holocaust in Deutschland gibt, war nichts, was aus sich selbst heraus, aus dem Wunsch der Bevölkerung gekommen ist, sondern war letztendlich dem Umstand geschuldet, dass Deutschland den Krieg verloren hat, dass vom Ausland Druck gemacht wurde, dass viele Deutsche eben mit den Verbrechen, mit ihren Verbrechen oder den Verbrechen ihrer Väter oder Großväter zwangsweise konfrontiert wurden. Spätestens die 68er Generation war dann bereit, sich freiwillig mit dem Thema auseinanderzusetzen. Aber etwas Derartiges hatten wir beim Armenier-Genozid nicht. Es fehlte der Druck auf Deutschland, es fehlte aber auch eine kritische Öffentlichkeit in Deutschland, die überhaupt ein Bewusstsein für dieses Thema entwickelt hatte.
Dazu kommen natürlich die exzellenten Beziehungen zur Türkei, so dass gerade in dieser Richtung alles vermieden wurde, was den Nato-Partner, den Wirtschaftspartner Türkei provozieren könnte. Und wenn man von der Türkei redet, geht es hier auch um die türkeistämmige Diaspora in Deutschland, die sehr stark organisiert ist in Lobbyverbänden. Da überlegt sich jeder deutsche Politiker natürlich zweimal, ob er sich mit dieser Lobby, die viele Wählerstimmen bedeutet, unbedingt anlegen will.
Es stimmt allerdings nicht, dass sich der Bundestag erst 2005 mit dem Thema beschäftigt hat. Schon im Jahr 2000 lag dem Petitionsausschuss des Bundestags eine von 16.000 zumeist türkeistämmigen Deutschen oder in Deutschland lebenden Türken und Kurden unterzeichnete Petition vor, wo es darum ging, den Genozid als solchen anzuerkennen. Damals hat der Petitionsausschuss in Abstimmung mit dem Auswärtigem Amt gesagt, diese Petition oder wenn man diese Petition erfüllt, wäre nicht geeignet, die Wunden der Vergangenheit zu heilen, und es wäre auch nicht die Angelegenheit des Bundestages. Es sollten sich doch die betroffenen Staaten Türkei und Armenien darum kümmern.
Und 2002 hat dann der PDS-Abgeordnete Uwe Hiksch versucht, einen fraktionsübergreifenden Antrag einzubringen. Weil sich doch zeigte, dass eigentlich in allen Fraktionen wohlwollende Menschen gibt, die sich mit dem Thema auskennen, die nicht daran zweifeln, dass es ein Genozid war, die vielleicht bereit gewesen wären, über ihren parteipolitischen Schatten zu springen. Aber es war leider eine Illusion. Die PDS war nicht in der Position die Leute hinter sich zu bringen. Der damalige stellvertretende SPD-Vorsitzende Gernot Erler hat dann erklärt, es handelt sich zwar ohne Zweifel um ein Genozid, aber aus grundsätzlichen Erwägungen sollte man so etwas nicht dem Parlament vorlegen. Und er sagte, es sollten sich Historiker damit beschäftigen; Parlamente sollten sich mit der Geschichte des eigenen Landes beschäftigen. Offensichtlich war es Erler nicht klar, dass hier auch um die Geschichte des eigenen Landes ging. Uwe Hiksch hatte das in seinem Antrag auch extra reingeschrieben: die erwähnte Rolle, die deutsche Soldaten, deutsche Offiziere und deutsche Bürokraten gespielten hatten beim Genozid. Und die Rolle der deutschen Diplomatie und politischen Führung gespielt hat, durch – ich nenne es mal – unterlassene Hilfeleistung. Sie haben es einfach nicht genutzt ihr Druckpotential, das sie gehabt hätten, auf den türkischen Kriegspartner einzusetzen.
Wie kam es, dass SPD, CDU-CSU, Grüne und FDP, die 2001 alle eine Beschlussfassung zum Genozid abgelehnt hatten, vier Jahr später plötzlich bereit waren, eine Stellungnahme abzugeben? Und wie kam es dazu, dass ausgerechnet die CDU die Initiative ergriff, einen Antrag zum Genozid einzubringen?
Ich kann hier auch nur spekulieren. Auch was die CDU betrifft und auch die anderen Parteien: wenn sie an der Regierung sind, handeln sie ganz anders als wenn sie in der Opposition sind. Der gemeinsamen Resolution 2005 ging zuerst ein Antrag der Unionsfraktion voraus. Da waren die anderen Fraktionen gezwungen darauf zu reagieren. Dass, was paar Jahre vorher mit dem Antrag von Uwe Hiksch nicht funktionierte, weil die PDS das Schmuddelkind war, mit denen keiner redete; diesen Luxus konnten sich die Fraktionen nicht mehr leisten, als die CDU vorpreschte mit so einem Antrag. Da war man gezwungen zu handeln und einen gemeinsamen Antrag auszuhandeln. Ich denke, dass einen gewissen Hintergrund dabei die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gespielt haben. Die Union hat Bedenken gegen einen türkischen EU-Beitritt und hat sich plötzlich sehr stark als Verteidigerin von Menschenrechten in der Türkei aufgespielt. Weniger der Menschenrechte der großen, millionenstarken kurdischen Minderheit als der weniger als 0,5 % starken christlichen Minderheit. Aber ich denke in diesem Zusammenhang ging es der Union auch darum, die Türkei ein bisschen vorzuführen, vielleicht auch zu brüskieren und zu zeigen, dass die Türkei nicht Mitglied der EU werden sollte.
Weder im April 2005 eingebrachten Antrag der Unionsfraktionen, noch in dem zwei Monate später angenommenen interfraktionellen Antrag taucht der Begriff Genozid auf.
Ja und Nein. Im interfraktionellen Antrag taucht das Wort im Begründungsteil auf. Dort heißt es, dass eine ganze Reihe von Historikern, Parlamenten usw. die Massaker und Vertreibungen als Genozid bezeichnen. Im Beschlussteil fällt auf, wie die Ereignisse beschrieben werden: es sind genau die Kriterien, die von der UN in der Definition von Genoziden enthalten sind. Faktisch hat der Bundestag den Genozid als solchen anerkannt. Es ist auch von über 1 Mio. Todesopfern die Rede. Aber das Wort Völkermord bzw. Genozid wurde im Beschlussteil nicht verwendet. Ich denke aus zwei Gründen: Der eine war, man wollte den Aufschrei der Türkei und auch den Aufschrei der von der Türkei gesteuerten der türkischen Lobby in Deutschland soweit wie möglich umgehen. Das andere war, dass ab dem Moment, bei dem es Eingeständnis gibt, dass es ein Völkermord war und dass Deutschland in irgendeiner Form daran beteiligt war, könnten tatsächlich Entschädigungsansprüche auf Deutschland bzw. auf deutsche Konzerne oder Versicherungen zukommen. Wir haben das vor drei Jahren gemerkt, als in einer Kleinen Anfrage der Linksfraktion wissen wollte, wie die Bundesregierung zu der Entschließung von 2005 steht und wie sie die Erkenntnisse über die deutsche Rolle bewertet. Die Bundesregierung sagte, sie äußert sich dazu nicht weil in den USA Verfahren von armenischer Seite auch gegen die Deutsche Bank, u.a. im Zusammenhang mit Zwangsarbeit bei der Bagdad-Bahn – die Bundesregierung nannte es „angeblicher Zwangsarbeit“ – laufen würden. Auch zu den Forschungsergebnissen wollte sich die Bundesregierung nicht äußern. Es sollte also der Begriff vermieden werden um einerseits die Türkei nicht unnötig zu provozieren und andererseits wollte sich der Bundestag sicherlich gegen etwaige Entschädigungsansprüche absichern.
Welche Konsequenzen hatte der Bundestagsbeschluss letztendlich? Was wurde seit 2005 getan, um ihn umzusetzen?
Sehr wenig, und man muss sagen, dass einiges, was im Beschluss steht im Nachhinein unter der jetzigen Regierung sogar im Wortlaut revidiert wurde. Es gibt ein Rückfall zu Standpunkten, die eigentlich 2000-2001 eingenommen wurden. Und es gibt auch einen Rückfall hinter die Beschlussfassung von 2005.
Inwiefern?
Da ist, wie als Antwort auf eine Kleinen Anfrage der Linksfraktion hervorgeht, nicht mehr die Rede von der beschämenden Rolle Deutschlands oder dergleichen, sondern es heißt nur noch, eine Aufarbeitung ist in erster Linie Sache der betroffenen Länder Armenien und Türkei. Das stand in der Resolution von 2005 nicht drin. Da hieß es, es solle dazu beigetragen werden zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern. Das ist etwas ganz anderes. Von 9 Mio. Armeniern weltweit leben nur drei Millionen im Staat Armenien und werden durch diesen vertreten.
Es ist also nicht die Sache der Staaten Türkei und Armenien, sondern es ist die Sache der Menschen. Die ursprüngliche Resolution hat zumindest von Text her die weltweite armenische Diaspora mit einbezogen, ebenso die in Deutschland lebenden türkeistämmigen Bürger. Und die ursprüngliche Resolution hat die Rolle Deutschlands ganz klar benannt. Aber davon will die heutige schwarz-gelbe Regierung nichts mehr wissen. Unter anderem mit dem Verweis auf laufende Verfahren bzw. Klagen von armenischer Seite gegen die Deutsche Bank im Zusammenhang mit Zwangsarbeit bei der Bagdad-Bahn.
Im zweiten Absatz des Bundestagsbeschlusses steht, das Werk von Johannes Lepsius solle „dem Vergessen entrissen und im Sinne der Verbesserung der Beziehungen zwischen dem armenischen, dem deutschen und dem türkischen Volk gepflegt und erhalten werden“. Hat der Bundestag damit konkret vorgegeben, wie und wo die Aufarbeitung des Genozids und die Verbesserung der Beziehungen zwischen Armeniern, Deutschen und Türken stattfinden sollten?
Einen wichtigen Anteil bei der Ausarbeitung des Bundestagsantrags hatte der evangelische Theologe und Leiter des Lepsius-Archivs, Hermann Goltz. Es ist Herrn Goltz sicherlich nicht zu verdenken, dass er in den Antrag reinschrieb, dass auch die Figur von Lepsius besonders geehrt werden sollte. Lepsius sollte herausgestellt werden als ein Deutscher, als einer der ganz wenigen Deutschen, die sich überhaupt für die Armenier eingesetzt haben. Es spricht auch gar nichts dagegen. Im Antrag wurden übrigens auch andere erwähnt, Liebknecht, Wegner, Erzberger. Es gab eine Handvoll Leute, die sich für die Armenier einsetzten, aber Lepsius war sicherlich derjenige, der überhaupt erst mal Material brachte, der überhaupt erst mal nachweisen konnte, welche Verbrechen dort gelaufen waren, und auf den sich dann andere wie Liebknecht und Erzberger stützen konnten.
Was machte nun Herr Goltz mit diesem einen Satz in dieser langen Resolution. Für ihn war dieser eine Satz, das Andenken an Lepsius zu bewahren das entscheidende. Er brachte dann einen Projektantrag in den Bundestag ein, der dort durch alle Ausschüsse schnell durchgewunken wurde. Nur von der Linken gab es keine Stimme dafür.
Das lief darauf hinaus, dass der entscheidende Träger dieser Resolution das Potsdamer Lepsiushaus sein sollte. Also die Villa, in der Lepsius lange Jahre seines Lebens verbracht hatte. Diese Villa sollte nicht nur renoviert und für Besucher geöffnet werden, sondern es gründete sich dort auch Förderkreis, der weniger von Wissenschaftlern als von Theologen und Funktionären der evangelischen Kirche um Herrn Goltz rum dominiert wurde. Und lange Jahre flossen erst mal alle Mittel, die aufgrund der Bundestagsresolution aus öffentlichen Geldern vergeben wurden, um diese Resolution umzusetzen – inzwischen 400.000 Euro – ausschließlich an das Lepsiushaus.
Das Lepsiushaus wiederum machte allerdings nicht allzu viel, zumindest nicht in den ersten Jahren, um sich mit dem Thema Genozid zu befassen, und schon gar nicht, mit dessen wissenschaftlicher Aufarbeitung. Was dort anfangs lief war – wie Wolfgang Gust es ausdrückte – eine ganz unevangelischer Heiligenkult, den man dort um Lepsius betrieb. Es wurden dort keinerlei Kritik an die Figur Lepsius rangelassen. Lepsius war eben aber nicht nur der uneigennützige Schutzengel der Armenier, wie er oft genannt wurde, sondern er war gleichzeitig sicherlich auch ein Kind seiner Zeit. Er war aus der evangelischen, kaisertreuen Pastorenecke, mit allen nationalistischen, deutschnationalen Vorurteilen und Denkmustern behaftet. Lepsius war auch einer, der anti-semitische Äußerungen machte, er arbeitete für den deutschen Geheimdienst, er war ein Mann Ludendorffs. Es war nicht so, dass er aufgrund seiner Veröffentlichung verfolgt wurde. Nein, er hat sich direkt dem faktisch starken Mann des deutschen Reiches unterstellt und arbeitete für dessen Auslandsgeheimdienst. Wir werden so eine ganze Reihe schwarzer Flecken auf der Weste von Lepsius finden. Dass soll – möchte ich hier betonen – den Einsatz von Lepsius für die verfolgten Armenier nicht abwerten.
Es gab im Lepsiushaus keine Bereitschaft sich mit Lepsius kritisch auseinanderzusetzen. Und noch weniger gab es die Bereitschaft, wissenschaftlich über den Genozid zu arbeiten. Erst jetzt, in den letzten 1-2 Jahren ist das Programm des Lepsiushauses auf breitere Füße gestellt worden. Es finden jetzt nicht nur Veranstaltungen zu Lepsius statt, sondern auch mit armenischen Wissenschaftlern zum Thema Genozid. Die Frage ist, ob das Haus eines erklärten Islammissionars tatsächlich der geeignete Ort, um eine Aussöhnung von türkischen Muslimen, von Armeniern – die Lepsius als ebenfalls zu bekehrende Höchste unter den Niedrigen bezeichnete – und Deutschen zu betreiben.
Es gab im Bundestagsbeschluss auch die Forderung, dass der Genozid an den Armeniern in den Lehrplan des Geschichtsunterrichts aufgenommen werden sollte. Was ist daraus geworden?
N. Brauns: Das konnte natürlich nur eine Empfehlung des Bundestags sein, weil Lehrpläne Landesangelegenheit sind. Man muss sagen, in dieser Richtung ist gar nichts geschehen. Ein einziges Bundesland, nämlich Brandenburg, hat den Genozid an den Armeniern als ein mögliches Thema im Lehrplan stehen, aber das nicht erst seit der Bundestagsresolution, sondern bereits vier Jahre vorher.
Brandenburg hat im Jahr der Bundestagsresolution das Thema aus dem Lehrplan entfernt, nachdem der Ministerpräsident und der Bildungsminister ein Abendessen mit dem türkischen Botschafter hatten. Daraufhin hat die Regierung von Platzeck diesen Halbsatz, wo drinstand, dass man das Thema Genozid am Beispiel des Schicksals der Armenier behandeln könnte, wieder rausgestrichen. Das führte allerdings zu Protesten aus allen Parteien. So wurden die Lehrpläne wieder soweit überarbeitet, dass jetzt der Armeniergenozid als eines von 22 möglichen Themen drankommen kann. Fakultativ stehen daneben auch Stalins Verbrechen, Pol Pots Verbrechen, der Völkermord in Ruanda und dergleichen. Ob das Thema Armenierrgenozid im Geschichtsunterricht behandelt wird, ist also völlig ungewiss.
Das Thema ist dabei nicht nur für Deutsche bzw. deutschstämmig Schüler wichtig, sondern auch für die türkeistämmigen Schüler in Deutschland. Von denen gibt es in Brandenburg allerdings nicht allzu viele. Hier wären sicherlich andere Bundesländer viel mehr gefragt. Aber da ist bisher nichts geschehen. In Niedersachsen fand eine vom Kultusministerium unterstützte Tagung statt, wo es darum ging, wie Völkermorde im Unterricht behandelt werden. Darauf folgte zwar erst mal nichts, dann gab es den Vorschlag von Lehrerseite, , als Vorläufer des Holocaust zu behandeln. Der Holocaust steht in jedem Lehrplan ausführlich drin, und zwar zu Recht. Wenn ein Lehrer tatsächlich den Armeniergenozid behandeln will, dann könnte er ihn als Vorläufer, vielleicht auch als eine Inspiration für Hitler nennen, der sich vor Beginn seines Vernichtungsfeldzugs gegen die slawischen Völker ausdrücklich auch auf die Vernichtung der Armenier berufen hat.
Die Linksfraktion im Bundestag hat nach 2005 in mehreren Kleinen Anfragen Auskunft darüber verlangt, wie der Bundestagsbeschluss umgesetzt wurde. Sie war in ostdeutschen Bundesländern wie Mecklenburg-Vorpommern und Berlin an der Regierung beteiligt. Das Bundesland Berlin wurde bis 2011 von einer rot-roten Koalition regiert, und in Berlin leben schließlich viele türkeistämmige Migranten. Hat die Linke selber etwas unternommen, damit das Thema in den Lehrplan aufgenommen wird?
In die Richtung lief überhaupt nichts. In Berlin wäre es tatsächlich sehr, sehr wichtig gewesen. Aber ich denke, gerade die dortige Linkspartei hat sich nun in jeder Hinsicht als Konfliktscheu herausgestellt. Es ist nichts geschehen, es wurde nicht einmal in der Richtung gedacht. Man kann sagen, in der ganzen Linkspartei haben eigentlich nur drei Leute überhaupt das Thema aufgegriffen. In der vorletzten Legislaturperiode war es Hakki Keskin, der das Thema in der Form aufgegriffen, dass er den Genozid öffentlich infrage stellte und sich als Lobbyist türkisch-nationalistischer Verbände hier gebärdete. Ansonsten haben später Ulla Jelpke und Katrin Werner mit ihren kritischen Nachfragen wissen wollen, was zur Umsetzung der Bundestagsresolution unternommen wurde.
Was ist mit der Linkspartei in den westlichen Bundesländern wie das Saarland, Hessen, NRW usw. Hat sie in den Landtagen, in denen sie vertreten ist, das Thema eingebracht?
Mir ist davon nichts bekannt. Aber es ist bei der Linkspartei so wie bei allen Parteien: ohne Druck von außen werden Themen auch nicht unbedingt aufgegriffen. Und es fehlte hier schlichtweg der Druck, es fehlt eben nach wie vor in der deutschen Öffentlichkeit, auch in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit das Bewusstsein für diese Thematik. Und drum sah weder die Linkspartei noch irgendeine andere Partei die Notwendigkeit sich darum zu kümmern. Das wäre sicherlich eine Frage wo armenische Verbände, der Verband der Genozidgegner, die Arbeitsgruppe Anerkennung und andere gefragt sind, ganz gezielt auf die Linke und auch auf die anderen in den Parlamenten vertretenen Parteien zuzugehen und diese Forderung zu erheben. Das wäre auch gerade im Hinblick auf den vor uns liegenden 100. Jahrestag des Genozids sicherlich eine Initiative, die begonnen werden sollte in allen Bundesländern.
Im Zusammenhang mit den Verbrechen der Vergangenheit ist oft die Rede von der Wichtigkeit der „Erinnerungskultur“. Wie steht es mit der Erinnerungskultur in Deutschland, kommt die Politik ihrer Aufgabe nach, die Erinnerungskultur lebendig zu halten?
Sie kommt ihr nach, aber sicherlich nicht unbedingt in dem Sinne, dass sie dazu beiträgt, historische Ereignisse aufzuarbeiten, zur Versöhnung beizutragen, das Ganze im Gedächtnis der Menschen zu verankern. Ich meine, Erinnerungskultur in Deutschland läuft meistens darauf hinaus, etwas in Stein gegossenes zu sein, also Holocaust Mahnmal oder ähnliches. Und Erinnerungskultur in Deutschland ist natürlich verschiedensten politischen Interessen unterworfen. Also auch das Holocaust-Mahnmal, sobald es am Entstehen war, diente als Rechtfertigung für die Beteiligung Deutschlands am Angriffskrieg auf Jugoslawien, wo es kein „zweites Auschwitz“ (Joschka Fischer) geben sollte. Erinnerungskultur ist eben nichts, was auf die Aufarbeitung der Vergangenheit gewandt ist, sondern es geht um Politik hier und jetzt, um politische Interessen hier und jetzt.
Wäre es nicht gerade deshalb notwendig, dass die Zivilgesellschaft interveniert und ein anderes Verständnis von Erinnerungskultur fordert?
Ja, und ich denke einige Verbände von christlichen Gemeinschaften wie Armenier, Assyrer und Aramäer fordern jetzt, dass es zum 100. Jahrestag Denkmäler in Deutschland geben soll. Das ist sicherlich auch eine legitime Forderung, aber das ist nicht das, was Erinnerungskultur sein sollte. Erinnerungskultur stelle ich mir so vor, dass gerade in den Schulklassen, aber auch überhaupt in der Gesellschaft die Ereignisse diskutiert und aufgearbeitet werden. Dass hier türkische, kurdische, deutsche, armenische und Schüler ganz anderer Herkunft in Deutschland einfach zusammensitzen, um sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen auch als Lehre für Gegenwart und Zukunft.
Kommt die Politik ihrer Verantwortung nach, Erinnerungskultur so zu gestalten, dass die Menschen aus den Verbrechen der Vergangenheit lernen und daraus Lehren ziehen?
Vielleicht erwarten wir zu viel von der Politik, die ja auch vor allem Tagespolitik ist und tagespolitische Interessen wiederspiegelt. Also ich denke, sie ist ihrer Verantwortung in dem Sinne nicht nachgekommen.
Eine Hauptforderung an die Politik sollte einfach sein, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, um innerhalb dieser Rahmenbedingungen dann anderen gesellschaftlichen Gruppen, zivilgesellschaftlichen Gruppen, Wissenschaftlern, NGOs und anderen zu ermöglichen hier Forschungsarbeit, Aufklärungsarbeit, Aussöhnungsarbeit zu betreiben.
Dass das Auswärtige Amt seine Archive vollständig geöffnet hat, ist eine wichtige Rahmenbedingung. Das hat allerdings nichts mit Erinnerungskultur zu tun, sondern einfach mit deutschen Archivgesetzen. Aber das ist erst mal etwas sehr wichtiges. Ich wäre sehr froh, wenn die Türkei erst mal eine solche Rahmenbedingung geben würde, unabhängig davon, wie die türkische Regierung zum Faktum des Genozids steht. Ich denke, es geht um Rahmenbedingungen.
Es ist nicht so viel getan mit irgendwelchen Parlamentsbeschlüssen aus denen dann auch nichts folgt. Ich möchte in dem Zusammenhang darauf hinweisen, dass tatsächlich unter schwarz-gelb die Resolution von 2005 wieder systematisch demontiert wird.
Was kann man im Zusammenhang mit 2015, also zum 100. Jahrestag des Genozid, erwarten?
Ohne den nötigen Druck interessierter Kreise kann man gar nichts erwarten. Ich denke, der Bundestag und die Bundesregierung werden von sich aus nicht handeln. Wenn allerdings der nötige Druck da ist, könnte es zu einer erneuten Bundestagresolution kommen.
Ich denke, es sollte vor allem Druck ausgeübt werden um das Thema in die Lehrpläne aufzunehmen. Das wäre eine Sache, die auf Landesebene laufen muss, dass kann durch eine Bundestagsresolution nur verstärkt werden. Aber von sich aus wird hier niemand in Regierung oder Opposition das Thema aufgreifen, wenn nicht durch Petitionen u.ä. Druck gemacht wird. Es ist schon dieses Jahr damit begonnen worden. Eine Reihe von Verbänden haben einen offenen Brief an Merkel gerichtet. Die Antwort spricht schon für sich: Frau Merkel hat im Wesentlichen mit dem Wortlaut, wie er vor mehr als 10 Jahren auch schon gängig war, dieses Ansinnen abgelehnt. Eben mit der Begründung, es sei keine Angelegenheit der Politik, sondern der Länder Türkei und Armenien sowie der Wissenschaft.
Würde eine andere Regierung, z.B. eine rot-grüne oder eine rot-rot-grüne, eine andere Richtung einschlagen? In der Vergangenheit ist von dieser Seite nichts gekommen, was darauf hindeuten könnte. Die rot-grüne Regierung hat in ihren Antworten auf die KA der Linksfraktion im Prinzip auch nichts anderes gesagt als die schwarz-gelbe. Da sind keine Unterschiede feststellbar.
Das ist richtig. Und eine andere Regierung würde ohne den Druck auch nicht anders handeln. Was auch eine Rolle spielt ist, wie sich die Diskussion in der Türkei entwickelt. Bei der Regierung Erdogan sehe ich keine besonderen Initiativen das Thema anzugehen, im Gegenteil. Aber wenn es in der Türkei eine breite Diskussion gäbe und hier dann auch die Parteien im Bundestag das Gefühl haben, mit einer Resolution würden sie sich nicht allzu großen Ärger von Seiten der Türkei einhandeln, dann würden sie vielleicht sogar eine weitergehende Resolution beschließen.
Wenn es in Deutschland ohne Druck keine Bewegung in der Frage geben kann, wäre es dann nicht vor allem Aufgabe der armenischen Verbände aktiv zu werden, um diesen notwendigen Druck zu erzeugen?
Mit Sicherheit, denn das sind die Verbände, die aus Nachfahren der Opfer bestehen, und der Genozid ist gerade für die Diaspora noch mehr Identitätsbildend als für die Armenier in Armenien. Also darum wären die armenischen Verbände gefragt zu handeln. Aber nicht nur die, sondern auch die Verbände der Assyrer und Aramäer wären hier gefragt, ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen.
In zweiter Linie betrifft es aber auch die Verbände von Alewiten, Kurden und anderen, die teilweise selber Opfer von Genozid wurden. Die Kurden – von denen einige damals auch Täter waren – zeigen inzwischen selber eine gewisse Bereitschaft, ihre damalige Rolle aufzuarbeiten. Jedenfalls sind auch diese Verbände gefragt Druck zu erzeugen.
Also den Alewiten geht es auch darum auch heute in der Türkei ihre Rechte durchzusetzen. Ich erwähne die Alewiten hier ganz besonders, weil die Alewiten in Deutschland eine ganz andere Kraft darstellen als Armenier, Assyrer und Aramäer. Also darum wäre es sehr wichtig, diese Verbände mit ins Boot zu bekommen.
Glauben Sie, dass so ein Bündnis verschiedener Organisationen und Gruppen bis 2015 möglich ist?
Ich sehe die Möglichkeit. In den letzten zwei Jahren hat es sehr hoffnungsvolle Ansätze einer Zusammenarbeit zwischen diesen Verbänden gegeben, bei Protesten gegen Erdogan oder bei der gemeinsamen Forderung, rassistische, türkischsprachige Schulbücher aus dem Verkehr zu ziehen. Es gab diese Initiativen, die umso bedeutsamer sind, da es den sicherlich eher linksgerichteten kurdischen Verbänden, den vielleicht eher sozialdemokratisch-grün dominierten alewitischen Verbänden und dem Zentralrat der Armenier, der in einigen Punkten eher christlich-konservativ ausgerichtet ist, doch gelungen ist, hier zu gemeinsamen Forderungen zu kommen. Ich bin durchaus zuversichtlich, dass in Hinblick auf 2015 etwas laufen könnte. Allerdings muss die Initiative vom ZAD und anderen armenischen Verbänden ausgehen.
Ich denke, Kurden und Alewiten werden nicht von sich aus dieses Thema aufgreifen; sie werden sich aber dem auch nicht verwehren, wenn denn die Bitte von armenischer Seite herangetragen wird, für 2015 eine gemeinsame Kampagne zu starten. Ich denke, es ist diesen Verbänden auch durchaus bewusst, dass, wenn erst einmal der Armeniergenozid weiter in der Öffentlichkeit steht und hier weiter aufgeklärt wird, dann werden auch die Rechte der noch heute in der Türkei unterdrückten Gruppen zur Sprache kommen.
Sind deutsche Verbände, Gruppen oder Parteien nicht auch gefragt, in diesem Bündnis für 2015 eine Rolle zu spielen?
Selbstverständlich, es gibt eine ganze Reihe von Wissenschaftlern, Menschenrechtsaktivisten und auch Politiker, die sich hier einbringen müssen. Ich befürchte, dass die mit dem Thema befassten Deutschen- dazu würde auch den Kreis um das Lepsiushaus einbeziehen – werden nicht die kritische Masse aufbringen. Wir müssen als Deutsche natürlich eng mit den türkeistämmigen Migrantenverbänden agieren. Das Druckpotential können nur sie aufbringen. Wir können als Deutsche dabei helfen, wir können den Transmissionsriemen zur Politik bilden, haben da teilweise auch bessere Beziehungen.
Und es ist klar, dass Verbände in Deutschland, die sich überhaupt auch mit der Aufarbeitung des Holocaust widmen, Verbände, die heute aktiv sind gegen geschehene Völkermorde oder drohende Völkermorde, auch gefordert sind, in dieser Frage Position zu zeigen. Und es muss unbedingt versucht werden, für so ein Bündnis für 2015 Druck ausübt, solche Menschenrechtsgruppen und Wissenschaftler unbedingt einzubeziehen.
Toros Sarian
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Brauns, Nikolaus / Kiechle, Brigitte:
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Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam»
Schmetterling-Verlag Stuttgart
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April 2010