Der in Yerevan lebende junge Akademiker Gevorg Galtakyan studierte an der dortigen staatlichen Universität Turkologie. Seine Diplomarbeit handelte über die Notizen von Krikor Zohrab über Rechtsphilosophie und das Strafrecht im Osmanischen Reich. Der armenische Rechtsanwalt Zohrab war Abgeordneter des osmanischen Parlaments und gehörte später zu der Gruppe von prominenten armenischen Intellektuellen und Politikern, die am 24. April 1915 verhaftet und ins Landesinnere deportiert wurden. Er wurde im Juni 1915 in der Nähe der Stadt Urfa ermordet.
Gevorg Galtakyan konnte als Teilnehmer eines von der Hrant-Dink-Stiftung geförderten Projekts einige Monate an der Universität in Istanbul seine Forschung über Krikor Zohrab fortsetzen. Gegenwärtig arbeitet Gevorg Kaltakyan als Übersetzer und Dolmetscher in Yerevan. Dort erlebte er die Revolution, die im April 2018 zum Sturz der Regierung von Serge Sarkisyan führte. Am 8. Mai wählte das Parlaments der Republik Armenien Nikol Paschinyan zum neuen Ministerpräsidenten.
Das Gespräch mit Gevorg Galtakyan, worin er auf die Hintergründe, den Verlauf und die Folgen der „samtenen Revolution“ eingeht, fand Ende Mai in Yerevan statt.
Toros Sarian: In den vergangenen Wochen wurden wir Zeuge einer sehr tiefgreifenden Veränderung in der Republik Armenien. Es fand eine unerwartete und überraschende Entwicklung.
Gevorg Galtakyan: Man kann nicht sagen, dass es eine unerwartete Entwicklung war. Alles begann damit, dass mit einem Referendum das parlamentarische Regierungssystem anstelle des Präsidialsystems beschlossen wurde. Der damalige Staatspräsident Serge Sarkisyan hatte gesagt, dass er eine Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten ablehne. Zugleich sagte er, dass er mit der Verfassungsänderung nicht die Absicht verfolge, weiterhin die Regierungsmacht in seinen Händen zu behalten.
Durch die Verfassungsänderung wurde die Macht vom Staatspräsidenten zum Ministerpräsidenten verlagert. Sarkisyan hatte gesagt, dass er nicht die Absicht habe, das Amt des Ministerpräsidenten zu übernehmen.
Richtig, dass hatte er auch gesagt. Aber als die Parlamentswahlen näher rückten, machte er Andeutungen, dass er vielleicht doch für das Amt des Ministerpräsidenten kandidieren könnte. Dies hat in der Bevölkerung eine ganz neue Stimmung erzeugt. Die Menschen fragten sich, ob ihr Staatsoberhaupt ein Lügner sei. Sie hatten das Beispiel in Russland und in Aserbaidschan vor Augen: Putin hatte mal als Präsident und mal als Ministerpräsident die Macht in seinen Händen gehalten. In Aserbaidschan, wo die Amtszeit des Präsidenten sieben Jahre beträgt, ist die Begrenzung der Amtszeit durch ein Referendum aufgehoben worden. Somit kann dort der Amtsinhaber beliebig oft kandieren. Nachdem Alijew erneut zum Präsidenten gewählt worden war, fragten sich viele Menschen, ob es in Armenien auch zu einer vergleichbaren Situation kommen würde. Die Frage war also: werden wir auch ewig von einer Person regiert werden?
So kam es dazu, dass immer mehr Menschen anfingen gegen diese Entwicklung zu protestieren. Sie sagten, dass die Republik Armenien keine Bananenrepublik sei. Der Wunsch, die Demokratie durchzusetzen wurde so immer stärker. Nikol Paschinyan hat immer wieder folgendes gesagt: Egal, was ihr macht, wir werden für uns und unsere Kinder ein freies und glückliches Armenien schaffen.
Ich möchte hier auf einen wichtigen Punkt auf den Kundgebungen von Paschinyan hinweisen. Er und seine Freunde sprachen die Teilnehmer stets mit den Worten „stolze Bürger der Republik Armenien“ an. Die Kundebundsteilnehmer wurden also nicht als „Armenier“ angesprochen. Sie wissen, dass in der Republik Armenien verschiedene ethnische Gemeinschaften wie Eziden, Russen, Griechen usw. gibt. Somit wurden auch die Angehörigen dieser Gemeinschaften als „stolze Bürger der Republik Armenien“ angesprochen.
Es war im Grunde eine Frage des Stolzes: Die Bürger der Republik Armenien empfanden die herrschenden Verhältnisse als eine Schande und begehrten dagegen auf.
Die ganze Entwicklung nahm seinen Lauf, als Nikol Paschinyan mit einer kleinen Gruppe von Anhängern von Gyurmi aus einen Marsch nach Yerevan begann. Es gab manche Ereignisse in der Geschichte, die mit einem Marsch anfingen oder bei der ein Marsch eine wichtige Rolle spielte. Mir fällt der Lange Marsch von Mao Tse-Tung ein.
Auch der von türkischen Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu initiierte Marsch ist ein Beispiel. Ich war in der Türkei, als dieser Marsch stattfand. Märsche haben in der Geschichte tatsächlich eine wichtige Rolle gespielt. Marschieren bedeutet eine Aktivität; jeder kann sich daran beteiligen. Durch das Marschieren wird signalisiert, dass etwas in Bewegung kommen wird. „Mach einen Schritt“ war ein Slogan der Bewegung von Paschinyan. Alle Bürger wurden damit aufgerufen, einen Schritt für eine Veränderung der Lage im Lande zu tun.
Wie groß war die Gruppe, die mit dem Marsch begann?
Interessant ist, dass Paschinyan seinen Marsch vorab gar nicht angekündigt hatte. Er hatte also gar nicht gesagt, dass er an einem bestimmten Tag mit seinem Marsch beginnen würde. Er hatte lediglich gesagt, dass er ein Roadmap für ein Projekt hätte und damit anfangen würde ihn umzusetzen. Außer seinen engsten Anhängern wusste eigentlich niemand, was er vorhatte. Wir müssen aber hier vor allem auf den philosophischen Aspekt schauen. Bei dem von Kilicdaroglu angeführten Marsch fehlte eine Philosophie in dem Sinne, dass er der Bevölkerung erklären konnte, wie die Lösung der vorhandenen Probleme gelöst werden könnten.
Ferner stellte sich die Frage des zivilen Ungehorsams. Was bedeutet ziviler Ungehorsam, vor allem gewaltloser ziviler Ungehorsam. Vollkommen gewaltloser ziviler Ungehorsam bedeutet, dass die Menschen bei Beachtung der Strafrechtsordnung Aktionen durchführen, um ihre Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen auszudrücken. Das geschieht durch Sitzblockaden, durch Demonstrationen u.ä. Sicherlich können sich manche Menschen gestört werden, es wird aber keine Gewalt gegen andere Menschen ausgeübt.
Wir müssen hier die auf die Philosophie eines solchen Widerstandsrechts eingehen. Wenn ein Bevölkerungsteil, die zudem die Mehrheit bildet, bestehende Probleme im Staat kritisiert bzw. dagegen protestiert, dann kann sie dies in einer sanften Art und Weise und unter Beachtung auch der Rechte der Minderheit, tun.
Während des Marsches nach Yerevan, bei der Zwischenstationen in verschiedenen kleineren Städten und Ortschaften eingelegt wurden, hat Paschinyan seine Gedanken über die von ihm angestrebten Veränderungen über die Sozialen Medien verbreitet und somit die Bevölkerung über seine Ziele aufgeklärt. Er hat die sozialen Medien sehr intensiv genutzt. Das war eine Stärke der Bewegung Paschinyans.
Gevorg: Ganz genau so war es. Die sozialen Medien haben eine sehr wichtige Rolle gespielt. Er hat verschiedene Kanäle genutzt wie z.B. Youtube usw. Wenn jemand sich für eine bestimmte Sache bzw. für die Rechte der Bürger einsetzt, dann ist es natürlich wichtig, dass die Menschen von diesen Aktivitäten und Zielen erfahren. Paschinyan hat von Anfang an versucht, möglichst viele Menschen zu erreichen und sie in seine Bewegung einzubeziehen. Es war ihm bewusst, dass sicherlich auch manche dagegen sein würden, aber er wollte, dass die Menschen sich zumindest Gedanken machen und Fragen stellen. Das Internet hat ihm dabei die Möglichkeiten geboten, breite Bevölkerungsschichten zu erreichen. Wir wissen, dass gerade in autokratischen Staaten und Systemen die Medien, insbesondere die Fernsehanstalten, einer strikten Kontrolle unterworfen sind. So ist es in Aserbaidschan und der Türkei. Und auch unter der alten Regierung in der Republik Armenien war es so. Die Fernsehkanäle waren weitgehend in der Hand des autokratischen Systems. Nikol Paschinyans Antwort auf den von staatlich gelenkten Medien und Fernsehkanälen verhängten Boykott bestand darin, dass er das Internet nutzte, um die Menschen zu erreichen. Inzwischen besitzen fast alle Menschen ein Smartphone und Internetzugang. Ich kenne zwar nicht die genauen Statistiken, aber heute verfügen weitaus mehr Menschen über ein Smartphone und Internetzugang als vor zehn Jahren. Somit haben die sozialen Medien und das Internet eine viel größere Rolle gespielt als vor zehn Jahren.
Wir haben in den vergangenen Jahren oft erlebt, wie der Widerstand gegen eine autokratische Herrschaft über soziale Medien organisiert und koordiniert wurde. Für den Erfolg von demokratischen Bewegungen spielt das Internet inzwischen eine wichtige Rolle.
Paschinyan kam kurz vor der Wahl des Ministerpräsidenten durch das Parlament in Yerevan an. Die Wahl von Serge Sarkisyan zum Ministerpräsidenten erfolgte am 17. April. Was passierte nach diesem Datum?
Der Zeitraum zwischen dem Tag der Wahl zum Ministerpräsidenten und dann seinem Rücktritt am 23. April ist natürlich sehr interessant. An den Kundgebungen in Yerevan nahmen zehntausende teil. Paschinyan hat dabei dargelegt, wie die Probleme des Landes gelöst werden könnten. Eine Stärke von Paschinyan besteht darin, dass er in einer einfachen, verständlichen Sprache ganz offen alle Fragen anspricht und konkrete Lösungen anbietet. Die Gegenseite hat es nie getan. Der Einsatz der sozialen Medien hat schließlich dazu beigetragen, dass die Teilnehmerzahl der Kundgebungen stetig größer wurde
Ein besonders spektakuläres Ereignis war das Treffen zwischen dem neugewählten Ministerpräsidenten Serge Sarkisyan und dem Anführer der Massenbewegung,Nikol Paschinyan. Der Auftritt vor Vertretern der Medien dauerte nur drei Minuten.
Eigentlich hatte Serge Sarkisyan zu diesem Zeitpunkt bereits verloren. Paschinyan hat bei dem Treffen vor Vertretern der Medien Serge Sarkisyan ganz klar gesagt, dass es nur darum gehe, die Prozedur des Rücktritts zu klären. Es gab also nichts zu verhandeln. Zu diesem Zeitpunkt war eigentlich klar, dass Serge Sarkisyan die Auseinandersetzung gar nicht gewinnen konnte. Jeder weiterer Schritt, den er tat, brachte ihm seinem Ende näher. Er hatte kein Vertrauen in der Bevölkerung. Vor allem war in den wenigen Tagen eine ganz neue Atmosphäre entstanden, die sehr wichtig für den weiteren Verlauf der Ereignisse war. Eine neue Form von Zusammengehörigkeit wurde deutlich.
Gewöhnlich haben Individuen unterschiedliche Wünsche, Erwartungen und Forderungen. Individuen sind zuerst auf ihre eigenen Vorteile und Interessen bedacht. Manchmal verfolgen die einzelnen Individuen der Gesellschaft gemeinsame Ziele, weil es für sie alle Vorteile bring. Die Menschen waren sich einig, dass ihr Land frei werden sollte. Die Menschen wussten, dass ohne einen demokratischen Rechtsstaat die Korruption andauern würde. Jeder einzelne würde dadurch vom moralischen und materiellen Niedergang Nachteile erleiden. Als sich diese Erkenntnis in der Gesellschaft durchgesetzt hatte, war klar, dass Serge Sarkisyan nicht gewinnen konnte. Als er das Amt des Ministerpräsidenten übernahm, dachte er nicht an die Gesellschaft, sondern an sich.
Es trafen zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten aufeinander: Auf der einen Seite, der ehemalige Staatspräsident bzw. neugewählte Ministerpräsident, der auf eine lange politische Erfahrung zurückblicken konnte. Er hatte zugleich auch im Karabach-Krieg eine wichtige Rolle gespielt. Auf der anderen Seite stand ein kritischer Journalist, der 2008 die politische Bühne betreten hatte, ein entschlossener, mutiger und junger Oppositionspolitiker.
Es war eigentlich keine eine Auseinandersetzung zweier Personen. Paschinyan sagte, dass die Gesellschaft Liebe, gegenseitiger Respekt und Solidarität benötige; dass ein gesellschaftlicher Konsens notwendig sei. Die Zugehörigkeit zu bestimmten Parteien oder gesellschaftlichen Gruppen spielte dabei keine Rolle. Paschinyan gelang es, einen gesellschaftlichen Konsens über Parteigrenzen hinweg herzustellen.
Paschinyan kennt als ehemaliger Journalist die Probleme sehr gut. Er hatte sie in seinen Artikeln aufgezeigt. Die Gesellschaft muss zuerst die Probleme kennen, dann stellt sich die Frage, wie sie gelöst werden können. Eine der wichtigsten Aufgaben eines Journalisten besteht schließlich darin, dass er Probleme aufdeckt und die dafür Verantwortlichen benennt.
In der Bevölkerung genießt Paschinyan großes Vertrauen. Er wird nicht mit dem korrupten System in Verbindung gebracht; er war nicht verantwortlich für politische Fehler der Vergangenheit usw. Dies scheint wohl auch ein Grund dafür zu sein, warum breite Teile der Bevölkerung ihm vertrauen und ihn für einen glaubwürdigen Politiker halten, der die Probleme des Landes lösen könne.
Armenien ist ein kleines Land mit einer geringen Bevölkerungszahl. Die Menschen verstehen nicht, warum die Regierung nicht in der Lage ist, die Probleme eines solch kleinen Landes zu lösen. In einem weitaus größeren Land wie z.B. die Türkei, wo die Probleme auch zahlreicher und viel komplizierter sind, ist auch ihre Lösung schwieriger.
Nikol Paschinyan ist gewissermaßen ein neuer Typ von Politiker. Die von ihm geführte friedliche Oppositionsbewegung hat mit einer samtenen Revolution eine korrupte Regierung gestürzt. Können er und die samtene Revolution für andere, autokratisch regierte Länder ein Vorbild sein?
Ich denke, dass ist möglich. Es wäre auch wünschenswert, wenn überall dort, wo korrupte, autokratische Regierungen an der Macht sind, diese durch eine friedliche, samtene Revolution beseitigt werden. Das ist sicherlich etwas, was wir alle wollen.
Bezeichnend für Paschinyan ist, dass er sich auch als Ministerpräsident über die Social Media direkt an die Bürger wendet und offen die Fragen anspricht, die das Leben der Menschen und des Landes betreffen. Mir ist nicht bekannt, dass der Regierungschef eines anderen Landes sich jeden Abend über Facebook an die Bürger seines Landes wendet.
Paschinyan ist sehr direkt und offen, aber er muss auch so vorgehen. Die Gesellschaft fordert Veränderungen; die Menschen sehen die Probleme und erwarten Lösungen. Paschinyan sagt ihnen, dass er die Probleme erkennt und Lösungen dafür sucht bzw. anbietet. Sicherlich kann er nicht über jede Frage offen sprechen. Es gibt auch sehr sensible Fragen, die als „Staatsgeheimnis“ gelten und nicht offen diskutiert werden können. Aber alle Fragen, die das Leben der Bürger betreffen, spricht er offen an.
Am Anfang jeder Revolution herrscht eine große Euphorie. Die Menschen sind hoffnungs- und erwartungsvoll. Oft folgt dann aber eine Ernüchterung und die anfängliche Euphorie verfliegt wieder. Es ist also noch unklar, wie die politische Entwicklung weitergehen wird.
Es gibt sicherlich verschiedene mögliche Szenarien, sowohl gute als auch schlechte. Es ist sehr schwierig zu sagen, wie es weitergehen wird, ich weiß es eigentlich auch nicht. Aber eins ist klar: die gesellschaftliche und politische Atmosphäre hat sich verändert. Die Menschen sind andere als sie es noch vor einigen Monaten waren. Den in der Gesellschaft herrschenden Konsens über die Neugestaltung kann niemand mehr einfach beseitigen.
Paschinyan hat von Anfang an auch deutlich gemacht, dass er an seiner politischen Agenda konsequent festhalten werde.
Er hat in seinen Reden immer wieder gesagt, dass niemand die Revolution der Liebe und Solidarität aufhalten könne. Dies sei auch durch die Verhaftung von einzelnen nicht möglich, denn die Revolution sei eine Revolution der Bürger der Republik Armeniens.
Es gibt auch eine internationale Dimension dieser Revolution. So eine Revolution hatte es in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nicht gegeben. In vielen dieser Staaten herrschen autokratische Regierung, so in Kasachstan oder Aserbaidschan. Auch im Westen ist man überrascht, weil es keine „Blumenrevolution“ oder „Farbenrevolution“ wie in Georgien oder der Ukraine ist. Es ist gewissermaßen ein neuer Typ von Revolution. Manche könnten diese Revolution als eine Bedrohung empfinden.
Unser neuer Ministerpräsident benutzt die Bezeichnung „armenische Revolution“. Ich selber bevorzuge den Ausdruck „Revolution der Liebe und Solidarität“. Ein liberales, auf gesellschaftlichen Konsens beruhendes Verständnis hat sich durchgesetzt. In der Gesellschaft herrscht eine Atmosphäre der gegenseitigen Liebe und des Respekts. Sicherlich kann sich eine solche Veränderung nicht innerhalb von wenigen Tagen durchsetzen. Es gibt weiterhin eine Reihe von Problemen. Aber ein Anfang ist zumindest getan.
Aber sowohl für den Weste als auch für Moskau ist eine solche Revolution insofern gefährlich, weil es ein Vorbild für Veränderungen in anderen Ländern sein könnte. Es gibt noch viele Diktaturen und undemokratische Länder.
Leider ist das so. Es gibt Diktaturen und auch viele Länder, die nur dem Anschein nach demokratisch sind.
Ob der Westen die samtene Revolution in der Republik Armenien begrüßt ist fraglich, denn schließlich ist es ohne den Einfluss des Westens in Gang gesetzt worden. Oft hatte der Westen „Revolutionen“ politisch oder finanziell unterstützt, damit eine westlich orientierte Regierung an die Macht kommt. Der Westen hatte aber keine Kontrolle über die Entwicklung in der Republik Armenien.
Auf jeden Fall hat der Westen im Zusammenhang mit der Revolution keine Rolle gespielt, wie es z.B. in der Ukraine der Fall war. Ich denke, dass eine solche Revolution wie in Armenien, die ohne den Einfluss oder die Kontrolle seitens fremder Kräfte durchgeführt wurde keine Bedrohung für jemanden darstellt. Wir haben hier auf eine gewissermaßen kultivierte Art und Weise eine Revolution durchgeführt. Die Menschen haben die Basis eines gesellschaftlichen und politischen Konsenses geschaffen. Es gibt bei den Individuen der Gesellschaft gemeinsame Interessen, Bedürfnisse und Erwartungen.
Es gibt auch global vieles, was für alle Menschen von gleicher Bedeutung ist. Probleme entstehen, wenn die universellen menschlichen Werte nicht überall Gültigkeit haben. Aus der Geschichte der Menschheit wissen wir, dass es schädliche Ideologien gibt. Wir wissen, dass Nationalismus etwas schlechtes ist, dass es schlecht ist, wenn ein Land über ein anderes Land seine Herrschaft errichtet. Wir wissen, dass die Sprache des Hasses unheilvolle Auswirkungen hat. Wir haben aus der Geschichte vieles gelernt und wir müssen verhindern, dass diese schlimmen Fehler sich wiederholen, dass die Menschheit erneut Tragödien erlebt. Deshalb sagen wir, dass es notwendig ist, sich auf fundamentale, für uns alle wichtigen Werte zu einigen. Das bedeutet z.B., dass wir Gewalt ablehnen müssen; dass wir auch daran denken müssen, die Umwelt zu schützen.
Kommen wir nochmal auf die möglichen Auswirkungen der samtenen Revolution auf die Nachbarstaaten im Südkaukasus und im Nahen Osten zurück, wie könnten sie aussehen?
Bevor ich darauf eingehe, dürfen wir nicht vergessen, dass die Revolution hier weitgehend gewaltlos verlief. Ohne hier den ex-Präsidenten loben zu wollen, müssen wir erwähnen, was er in seinem Brief nach seinem Rücktritt geschrieben hat. Er schrieb, dass in der entstandenen Situation verschiedene Szenarien möglich gewesen wären. Für ihn sei aber ein anderes Szenario als sein Rücktritt nicht akzeptabel gewesen. Er hätte auch eine andere Entscheidung treffen können. Er hätte eine gewaltsame Eskalation herbeiführen können, um dann unter dem Vorwand Ordnung schaffen zu müssen, an der Macht zu bleiben. Sarkisyan hat aber nicht die staatlichen Sicherheitsorgane eingesetzt, um mit ihrer Hilfe an der Macht zu bleiben.
Er hätte versuchen können, die Opposition durch den Einsatz von Polizei und anderen Sicherheitskräften zu zerschlagen, er hat es aber nicht getan.
Wenn es mit denselben Forderungen, Ideen und Mitteln eine Revolution in der Türkei oder Aserbaidschan beginnen sollte, bin ich nicht sicher, ob die dortigen Machthaber sich genauso verhalten würden, wie Serge Sarkisyan es getan hat.
Ich möchte, dass auch das aserbaidschanische Volk so eine Revolution wie hier durchführt. Dort wurde die Herrschaft vom Vater auf den Sohn übertragen. Es herrscht dort ein autokratisches Regime. Der Präsident kann sich beliebig oft wiederwählen lassen. Wenn das aserbaidschanische Volk auch mit einer Revolution der Liebe und Solidarität das dortige Regime stürzt, wird es auch einfach sein, die bestehenden Probleme in der Region zu lösen.
Wir haben hier gezeigt, dass es möglich ist, eine gewaltlose Revolution durchzuführen. Sobald eine Atmosphäre der Liebe und Solidarität entfacht ist, entwickelt sich vieles wie von selbst. Paschinyans Verdienst war es, dass er diese Atmosphäre geschaffen hat, dass er die Menschen ermutigt hat, einen Schritt zu tun, um die Verhältnisse zu verändern. Ich bin zuversichtlich, dass der eingeleitete Prozess erfolgreich fortgesetzt wird.
Danke für das Gespräch.