In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben sowohl armenische Historiker der Republik Armenien als auch der Diaspora verschiedene Aspekte des Genozids an den Armeniern eingehend untersucht. Anlässlich des 100. Gedenkjahres des Verbrechens erschienen 2015 zahlreiche neue Bücher. Der türkische Staat leugnet den Genozid weiterhin und versucht eine offene, kritische Auseinandersetzung mit den Verbrechen an den Armeniern und anderen christlichen Gemeinschaften des Osmanischen Reiches zu unterdrücken. Der Mord an Hrant Dink bildete den Höhepunkt der türkischen Leugnungspolitik. Diese repressive Politik konnte jedoch nicht verhindern, dass immer mehr türkische Wissenschaftler und Intellektuelle die offizielle Geschichtsdarstellung offen und deutlich kritisieren.
Eine wichtige Vorreiterrolle im Kampf gegen die türkische Geschichtsverfälschung spielt bis heute Prof. Taner Akçam, der in den USA lebt und forscht. Unter den kritischen türkischen Wissenschaftlern, die in der Türkei leben und arbeiten, ist insbesondere Sait Çetinoğlu zu nennen. Seinen auf türkischen Quellen und Dokumenten beruhenden umfassenden Arbeiten verdanken wir wichtige Erkenntnisse über die politisch-ökonomischen Motive des jungtürkischen Regimes. Speziell zu der Frage der staatlich betriebenen Enteignung der Armenier und Griechen haben wir Sait Çetinoğlu, Taner Akçam, Ümit Kurt, Nevzat Onaran, Mehmet Polatel und Ayhan Aktar wichtige Werke zu verdanken. Armenische Wissenschaftler haben zu dieser Frage bislang nur wenig Beachtung geschenkt. Die in den 70er-Jahren erschienene Arbeit von Levon Vartan (Beirut) ist leider kaum bekannt, das Buch von Kevork K. Baghdjian, „The Confiscation of Armenian Properties“ (Antilias, 2000) und Bedros Der-Matossians Texte zählen zu den wenigen Veröffentlichungen, die sich mit dem Thema Enteignung der Armenier befassen.
Es ist allgemein bekannt, dass sich bis zum Beginn des 1. Weltkrieges die Wirtschaft des Osmanischen Reiches weitgehend in den Händen der Armenier und Griechen befand. Handel, Handwerk und Industrie wurde von ihnen dominiert. Trotz der von der türkisch-muslimischen Herrschaft gesetzten rechtlichen und politischen Beschränkungen entstand vor allem in der Hauptstadt und großen Handelszentren wie Saloniki, Izmir oder Trabzon eine wohlhabende Schicht von Armeniern, Griechen und Juden. Die moderne bürgerliche Klasse, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Osmanischen Reich herausbildete, setzte sich aus Angehörigen dieser Gemeinschaften zusammen.
Ein Genozid begleitet von Raub und Plünderung
Das 2015 in englischer Übersetzung erschiene Werk von Anahit Astoyan ist unter den zahlreichen, im 100. Gedenkjahr des Genozids veröffentlichten Büchern, von besonderer Bedeutung. Die Autorin behandelte in ihrem Buch „The Pillage oft the Century – Expropriation of Armenians in the Ottoman Empire 1914–1923“ die gewaltsame Enteignung der Armenier. Das Buch enthält zahlreiche historische Fotos und seltene Dokumente. Im ersten Kapitel ihres Buches geht sie auf die Rolle der Armenier in der Wirtschaft des Osmanischen Reiches ein. Die in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgeführten Reformen verbesserten die rechtliche Lage der nichtmuslimischen Gemeinschaften des Osmanischen Reiches; durch den wachsenden Handel mit Europa konnten sie ihre wirtschaftliche Stellung noch weiter ausbauen. Die türkisch-muslimischen Eliten spielten im Wirtschaftsleben des Landes kaum eine Rolle, denn ihre privilegierte Stellung im Staats- und Verwaltungsapparat sicherte ihnen bedeutende Einnahme und Macht. Ihre Herrschaft über den Militärapparat, dem im Osmanischen Reich eine besondere Bedeutung zukam, wurde durch die Reformen nicht infrage gestellt. In den östlichen Provinzen herrschten feudale Strukturen. Die türkischen oder kurdischen Feudalherren hatten uneingeschränkte Macht über die armenische Landbevölkerung.
Anahit Astoyan stellt dar, wie durch die Massaker von 1894 bis 1896 nicht nur etwa 300.000 Armenier umgebracht wurden: Mit den Massakern und Vertreibungen fand zugleich auch eine Enteignung der armenischen Landbevölkerung in den östlichen Provinzen statt. In jenen Jahren wurde die demografische Struktur der armenischen Gebiete unter türkisch-osmanischer Herrschaft entscheidend verändert. In den Städten und Dörfern in den östlichen Provinzen blieb die Wirtschaft aber weiterhin in den Händen der Armenier. Die Statistiken über den Anteil der jeweiligen Gemeinschaften an der Wirtschaft der Provinz Sivas belegen eindrucksvoll die Bedeutung der Armenier: Von den insgesamt 166 Exporteuren waren 141 Armenier und nur 13 Türken, von den 150 Importeuren waren 127 Armenier und 23 Türken, von den 9800 Geschäften und Handwerksbetrieben wurden 6800 von Armeniern betrieben, von den 153 industriellen Manufakturen gehörten 130 Armeniern und von den 17700 Technikern und Angestellten waren 14000 Armenier. In anderen östlichen Provinzen wurde die Wirtschaft ebenfalls deutlich von Armeniern dominiert.
In ihrem Werk geht Anahit Astoyan auch auf die großen Verluste der armenischen Kirche und auf die Rolle von ausländischen Unternehmen ein. Ein Kapitel behandelt die Phase nach Kriegsende bis zur Gründung der Republik Türkei. Das Buch gibt somit einen umfangreichen Überblick über wirtschaftliche Dimension des Verbrechens an den Armeniern. Wichtig ist das insbesondere auch deshalb, weil dadurch verständlich wird, warum sich die Türkei bis heute weigert, den Völkermord anzuerkennen: Mit einer Anerkennung käme auch die Frage nach einer materiellen Wiedergutmachung auf die Tagesordnung. Eine solche brisante Frage würde nicht nur den Staat betreffen, sondern auch Türken, die von der Enteignung der Armenier profitiert haben.
Anahit Astoyan studierte am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau und befasste sich lange Jahre mit Literaturwissenschaft. Sie war vier Jahre lang in der Bibliothek des armenischen Patriarchats in Istanbul tätig. Seit 2009 arbeitet sie im Matenadaran, dem Institut für altertümliche Manuskripte. Es ist bemerkenswert, dass eine Literaturwissenschaftlerin anlässlich des 100. Gedenkjahres zum Genozid an den Armeniern ein so faktenreiches, übersichtlich aufgebautes, lesenswertes Buch verfasst. Ihre Arbeit behandelt zudem einen bislang weitgehend im Dunkeln gebliebenen Aspekt der Geschichte des Genozids. Dabei hat sie auch die Arbeiten türkischer Autoren wie Sait Çetinoğlu, Uğur Ümit Üngör, Nevzat Onaran, Taner Akçam oder Ayse Hür berücksichtigt. Dies zeigt, dass armenische Wissenschaftler die Arbeiten von kritischen türkischen Wissenschaftlern schätzen und in ihren Arbeiten berücksichtigen.
Es erscheint vielleicht ungewöhnlich, wenn hier auf ein Buch aufmerksam gemacht wird, das bereits vor sieben Jahren erschienen ist. Aber es muss auf das von Zaruhi Soghomonyan ins Englische übersetzte Buch Anahit Astoyans hingewiesen werden, weil es einer breiten Leserschaft ermöglicht, sich Einblick in ein wenig thematisierten Aspekt des Genozids zu verschaffen. Das Matenadaran (Maschtots Institut für altertümliche Manuskripte) hat mit der Veröffentlichung des Werkes von Anahit Astoyan Das Matenadaran einen wichtigen Beitrag zum 100. Gedenkjahr geleistet.
Die Frage des geraubten Eigentums der ermordeten oder vertriebenen Armenier und Griechen ist und bleibt ein äußerst brisantes Thema für die Türkei. In Ankara ist man sich darüber im Klaren, dass die Anerkennung des Genozids den Beginn eines Prozesses bilden wird, bei der auch die Frage der Wiedergutmachung auf die Tagesordnung kommen muss. Anahit Astoyans Buch verdeutlicht aber auch, dass beim Kampf um die Anerkennung des Genozids, die immensen materiellen Verluste des armenischen Volkes nicht thematisiert wurden. Das ist ein kaum zu verzeihendes Versäumnis der Armenier, das nicht einfach nachgeholt werden kann.