Edgar Hilsenrath ist im Alter von 92 Jahren gestorben. Mit ihm ist ein Überlebender der Shoah von dieser Welt gegangen, der – nicht nur – für Armenier ein sehr bedeutendes literarisches Werk hinterlassen hat: Das Märchen vom letzten Gedanken. Der Roman erschien 1989 und erhielt noch im selben Jahr den renommierten Alfred-Döblin Literaturpreis und 2006 den Armenischen Nationalpreis für Literatur. Edgar Hilsenraths Leben, das im April 1926 in Leipzig begann, wo er als Sohn eines jüdischen Kaufmanns auf die Welt kam, endete am 30. Dezember 2018 in einem Krankenhaus in der kleinen Stadt Wittlich in Rheinland Pfalz.
Nach den Novemberpogromen 1938 begann für Hilsenrath eine lange „Reise“. Seine Mutter floh mit ihm und seinem Bruder nach Rumänien zu Verwandten, sein Vater setzte sich später nach Frankreich ab. Als die Faschisten auch in Rumänien die Macht übernahmen, kam Hilsenrath in ein Ghetto.
Wie manche andere Überlebende der Shoah ging er nach Kriegsende nach Palästina. Noch vor der Gründung Israels verließ er aber das Land in Richtung Frankreich zu seinem Vater. Von dort zog er dann weiter nach New York. In den USA fing er an zu schreiben.
Es kommt nicht selten vor, dass Menschen, die ein grauenhaftes Verbrechen überlebt hatten, anfangen, künstlerisch oder literarisch ihre Erlebnisse zu verarbeiten, vielleicht könnte es als eine Art Selbsttherapie bezeichnet werden. Ein Beispiel dafür ist der Maler Arshile Gorky (Vosdanig Manoug Adoian), der 1904 in der Provinz Van in Westarmenien auf die Welt kam und als Kind den von der türkischen Regierung organisierten Völkermord überlebte.
In seinem ersten Werk „Nacht“, verarbeitete Hilsenrath die Erfahrungen während seiner Zeit im Ghetto. Sein international bekanntester Roman „Der Nazi und der Friseur“ handelt schließlich auch in der Zeit des deutschen Faschismus. Der Roman erschien 1971 zuerst in den USA, dann in Frankreich, Italien und England. In Deutschland hingegen zeigten die Verlage kein Interesse an einer Veröffentlichung. Das in Deutschland erst 1977 in einem kleinen Verlag in Köln erschienene Werk Hilsenraths bezeichnete der Literaturkritiker Helmut Böttiger als einen der „wichtigsten in der Geschichte der Bundesrepublik“.(1)
Hilsenraths Romane sind nicht nur eine literarische Auseinandersetzung eines Shoah Überlebenden mit der brutalen Realität faschistischer Herrschaft, sie sind ein Beitrag gegen das Vergessen. Dass dies für ihn sehr wichtig war, ist wohl auch daran zu erkennen, dass er als Romanstoff auch den Völkermord an den Armeniern wählte. Ein Völkermord, dass die Türkei leugnete und Deutschland verdrängte. Ein Verbrechen, dass dem Vergessen preisgegeben schien.
Es ist sicherlich kein Zufall, dass 56 Jahre nach Franz Werfels „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ erneut ein jüdischer Schriftsteller und Überlebender der Shoah ein Werk über den Völkermord an den Armeniern schrieb. Franz Werfel, Ralph Giordano und Edgar Hilsenrath sind drei Schriftsteller, die einen sehr bedeutenden Anteil daran haben, dass der Völkermord an den Armeniern wieder in Erinnerung gerufen wurde in Deutschland.
Nach Giordano, der im Dezember 2014 starb, haben wir einen weiteren bedeutenden jüdischen Schriftsteller verloren. Wer könnte sie jemals ersetzen? Was ist Deutschland ohne sie? Wer kann uns noch mit der Kraft seiner eigene Leidensgeschichte und seinen Erfahrungen aus der Zeit der faschistischen Diktatur daran erinnern, dass wir Menschheitsverbrechen niemals vergessen dürfen und stets ein unbeugsames Gewissen haben müssen, um ihre Wiederholung zu verhindern?
Hilsenrath war gewissermaßen ein „letzter Mohikaner“. Der „letzte Mohikaner“ stirbt nie, er bleibt immer in unserer Erinnerung.
1) https://www.sueddeutsche.de/kultur/hilsenrath-zum-nach-der-nacht-1.2928568