Nach Kobanê ist erneut ein bislang kaum bekannter Ort in Syrien in den Focus der Weltöffentlichkeit geraten: Afrin. Die an die Türkei angrenzende syrische Provinz ist mit 2000 Quadratkilometern Fläche kleiner als das Saarland. Die Einwohnerzahl Afrins beträgt mit etwa 350.000 auch nur ein Drittel der Bevölkerung des Saarlands, allerdings leben inzwischen nochmal so viele Flüchtlinge aus anderen Regionen Syriens dort. Eingeschlossen zwischen den Grenzen der Türkei sowie den von Islamisten und der syrischen Armee kontrollierten Gebieten konnte unter dem Schutz der YPG/YPJ ein demokratisches Gesellschaftsmodell aufgebaut werden. Dass die Türkei und andere reaktionäre Staaten in der Region dies auf Dauer nicht dulden würden, war von vornherein klar.
Der Mitte Januar von Ankara eingeleitete völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Afrin richtet sich somit nicht nur gegen die kurdische Befreiungsbewegung, sondern zielt auch darauf ab, die selbstverwalteten Gebiete zu zerschlagen, damit sie nicht als Vorbild für die gesamte Region dienen können. Der vom türkischen Militär geführte Angriffskrieg wird somit von allen reaktionärer Kräften im Nahen Osten unterstützt, die nach der Niederlage des IS in Kobanê von einer Angst getrieben werden: dass sich der Kampf der Völker der Region für eine Leben in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit unaufhaltsam ausbreitet und letztendlich auch ihre eigene Herrschaft bedroht.
Der Versuch, durch den Einsatz der türkischen Militärmaschinerie die selbstverwalteten Gebieten in Nordsyrien zu zerschlagen, wird scheitern; die Dialektik des von Ankara entfachten Krieges wird letztendlich den Untergang der für Krieg, Zerstörung, Unterdrückung und Völkermord verantwortlichen Kräfte beschleunigen. Der bisherige Kriegsverlauf zeigt, dass es den türkischen Militärs trotz ihres enormen Waffenarsenals und zahlenmäßiger überlegener Truppen, nicht gelingen wird, den Widerstand in Afrin zu brechen. Während die Selbstverteidigungseinheiten gut vorbereitet, kampferprobt und hoch motiviert sind, Afrin zu verteidigen, sind bei der Invasion der türkischen Armee fatale Fehler erkennbar. Nach fast vier Wochen wird immer deutlicher, dass die zweitgrößte Nato-Armee gegen die Selbstverteidigungskräfte in Afrin eine blamable, möglicherwiese auch folgenschwere Niederlage erleiden wird.
Das türkische Militär ist zum Scheitern verurteilt
In der Theorie über die Kriegsführung wird dem Überraschungsmoment bei einem Angriffskrieg eine große Bedeutung beigemessen. Gelingt es dem Gegner zu überraschen, sind die Aussichten ihn zu besiegen groß. Andersrum sind die Aussichten auf einen schnellen Sieg geringer, wenn der Gegner ausreichend Zeit hatte, sich auf einen Angriff vorzubereiten. Auf jeder Militärakademie wird den Offiziersanwärtern die Bedeutung des Überraschungsmoments sicherlich beigebracht. Jedoch wird die theoretische Kenntnis wenig bewirken, wenn die politischen Entscheidungsträger durch ihre Äußerungen unmissverständlich deutlich machen, dass sie einen Krieg planen.
In der Geschichte haben politische Führer manchmal ganz bewusst alles getan, um die Angriffsabsichten zu verschleiern. Obwohl die Vernichtung der Sowjetunion eines der erklärten Ziele des Hitler-Faschismus war, schloss sie mit der Sowjetregierung einen Nichtangriffspakt ab. Das Vertrauen auf die Einhaltung dieses Vertrages hatte für die Sowjetunion fatale Folgen: die deutsche Wehrmacht brachte durch ihren überraschenden Angriff die Rote Armee an den Rand einer Niederlage. Dass es letztendlich nicht dazu kam, beweist wiederum, dass kriegsentscheidend verschiedene Faktoren eine Rolle spielen.
Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, warum die neo-osmanischen Träume der AKP Regierung letztendlich in Afrin zerplatzen werden. Wie amateurhaft die türkische Regierung einen Krieg führt, wird bereits daran deutlich, dass Ankara viele Wochen vor der Invasion lautstark ihre militärischen Absicht gegen die von der YPG/YPJ kontrollierten Gebiete in Nord-Syrien angekündigt hat; dass vor allem Afrin im Visier der türkischen Regierung stand, war ebenfalls völlig klar. Der Gegner wurde gewissermaßen offen aufgefordert, sich auf den bevorstehenden Angriff vorzubereiten.
Dass die YPG/YPJ die Zeit für eine intensive Vorbereitung genutzt hat, wird auch in den Berichten westlicher Medien bestätigt: „Die Grossoffensive auf die kurdische Enklave Afrin im Nachbarland Syrien verlaufe nach Plan, heisst es in türkischen Regierungskreisen. Die Militäroperation sei erfolgreich, sagte Ibrahim Kalin, Sprecher des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, am Dienstag. Doch nachdem die türkische Armee und die von ihr unterstützten syrischen Kämpfer in den ersten Tagen einige Dörfer und einen wichtigen Hügel einnehmen konnten, haben ihre kurdischen Gegner mittlerweile eine Gegenoffensive gestartet. Dabei nahmen sie den Angreifern sowohl etliche Dörfer wie den Hügel wieder ab.“ Der von Erdogan vorschnell verkündete Sieg in Afrin ist also nicht mehr als eine Wunschvorstellung.
Allein die Tatsache, dass die türkischen Militärs einen Angriffskrieg beginnen, bei dem der Überraschungsmoment durch die Erklärungen der eigene politische Führung zunichte gemacht wurde, verdeutlicht die Einflusslosigkeit der Militärs in Ankara. Als die AKP-Regierung in den vergangenen Jahren potentielle Gegner aus den Streitkräften entfernte, wurde dies allgemein als eine fatale Schwächung der Armee angesehen. Der Versuch von Teilen der Streitkräfte, sich dieser Säuberung und ihre damit einhergehende Entmachtung mit einem Putsch entgegenzustellen, scheiterte kläglich. Danach hat die AKP-Regierung ihre Kontrolle über das Militär noch weiter ausgebaut und den Offizierscorps mit loyalen Militärs gefüllt. Der Kriege gegen Afrin ist in einer Zeit eingeleitet worden, in der sich die türkischen Streitkräfte in einer desolaten Verfassung befinden. Wahrscheinlich glaubt niemand außer Erdogan und einige seiner Getreuen daran, dass die Armee ausgerechnet heute in der Lage ist, etwas zu schaffen, was seit über 40 Jahren nicht gelungen ist.
Afrin kämpf und wird siegen
Nachdem die IS in Kobanê am Widerstand der YPG/YPJ gescheitert ist, versucht es nun die türkische Armee. Ihr völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen Afrin ist die zweite große Herausforderung für die selbstverwalteten Gebiete in Nord-Syrien. Militärisch können sich die YPG/YPJ bzw. die SDF (Demokratischen Kräfte Syriens) heute auf die im Kampf gegen den IS gesammelte Erfahrung stützen. Dass sie wie bereits in Kobanê auch in Afrin jedes Haus, jeden Straßenzug heroisch verteidigen werden ist gewiss. Seit dem Sieg in Kobanê haben sie noch mehr Selbstvertrauen, Motivation und Kampferfahrung als je zuvor.
Der Sieg in Kobanê markierte die Wende im Kampf gegen den IS, dessen Terrorherrschaft inzwischen weitgehend zerschlagen ist. In Afrin geht es darum, die expansionistisch-chauvinistische Politik Ankaras zu stoppen. So wie der IS nach ihrer Niederlage in Kobanê zusammengebrochen ist, wird in Afrin die Erdogan-Regierung und ihr neo-osmanischer Traum zerplatzen. Der Widerstand der Volksverteidigungseinheiten in Afrin gewinnt somit eine besondere Dimension, die bis nach Ankara reicht. Eine Niederlage der türkischen Invasionsarmee in Afrin wird für die Erdogan-Regierung schwer zu verkraften sein.
Aber der Widerstand Afrins hat auch eine besondere historische Dimension: In Afrin wird ein neues Kapitel in der Geschichte Syriens und Mesopotamiens geschrieben. Diese Region gilt als eine Wiege der Zivilisation. Das Herz des Nahen Ostens war über Jahrtausende hinweg Schauplatz unzähliger Kriege. Heute ist es an der Zeit, dieser langen, leidvollen Geschichte ein Ende zu setzen. Mit der Verteidigung Afrins und der anderen selbstverwalteten Gebiete werden die Völker Syriens und Mesopotamiens eine neue Lebensperspektive gewinnen. Ein Leben in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit ist heute keine Utopie mehr. Die Bevölkerung Afrins ist entschlossen, die von ihr aufgebaute Selbstverwaltung mit allen Mitteln zu verteidigen, denn sie wissen, was ein Sieg der türkischen Invasoren und ihrer Verbündeten bedeuten würde. Es gibt keine andere Wahl als zu kämpfen und zu siegen.
[1] https://www.nzz.ch/international/die-tuerkei-stoesst-in-afrin-auf-erbitterten-widerstand-ld.1350575
Dieser Artikel erschien am 19.02.2018 online auf Yeni Özgür Politika