Toros Sarian

Wohin bewegt sich die Mittelschicht?

Auf der Titelseite des Nachrichtenmagazins Focus wurde „das Ende der Mittelschicht (wie wir sie kennen)“ angekündigt.[1] Für viele wohl eine besorgniserregende Vorstellung, denn schließlich ist die Mittelschicht der Garant von Stabilität und Wohlstand – so wird es meist dargestellt. Die Mittelschicht ist der Orientierungs- und Bezugspunkt fast aller Parteien. Wer regieren will, muss sich in Richtung der gesellschaftlich-politischen Mitte bewegen. Das ist die breite Schichte der staatstragenden Spießbürger, die fleißig arbeiten, um ihren Traum eines eigenen Hauses oder zumindest einer Eigentumswohnung zu verwirklichen, die am liebsten einen Neuwagen mit Vollkaskoversicherung fahren wollen, brav ihre Steuern zahlen und Menschen anderer Kultur oder Religion möglichst nur im Urlaub kennenlernen möchten. Die meisten Menschen sind glücklich und zufrieden, wenn sie der Mittelschicht angehören, denn so fühlen sie sich als Teil der gesellschaftlichen Mehrheit, nach deren Wünschen und Bedürfnissen sich die Politiker orientieren – oder das zumindest vorgeben. Nichts fürchten die Angehörigen der Mittelschicht mehr, als nach unten abzustürzen.

Die Mittelschicht besteht aus verschiedenen Segmenten, die einige Gemeinsamkeiten teilen: Wohlstand und Stabilität, Sicherheit und Ordnung. In den vergangenen Jahren sind zwei neue Fragen auf die Tagesordnung gekommen, die sich auf die politische Ausrichtung der Mittelschicht ausgewirkt haben: die zunehmende Zahl von Migranten und die Furcht der Spießbürger vor der Erosion der nationalen und kulturellen Identität. Die politischen Präferenzen der Angehörigen der Mittelschicht werden nicht nur jeweils durch ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Segment bestimmt, sondern auch dadurch, was für sie wichtig erscheint: für die einen sind es materielle, für andere ökologische oder nationale Aspekte.

Die neue national-konservative Ära

Die weitverbreitete Vorstellung, dass die AfD eine Partei des „rechten Randes“ sei, ist eigentlich nicht zutreffend. Genaugenommen vertritt sie nur den „rechten Rand“ der Mittelschicht, der besonders national orientiert ist. Deshalb ist es nicht überraschend, dass Politiker wie Söder oder der Bundestagsabgeordnete Philip Amthor auf die AfD-Wähler zugehen, um sie wieder für die CDU/CSU zu gewinnen.[2] Manche CDU-Politiker gehen noch weiter und sprechen sich für Koalitionen mit der AfD aus.[3]

Die nationale Gesinnung ist nicht nur in Teilen der deutschen Mittelschicht deutlich stärker geworden, sondern in vielen EU-Staaten wie Frankreich, Dänemark, den Niederlanden oder Österreich. Die Mittelschicht in diesen Ländern besteht mehrheitlich aus weißen „Einheimischen“, die ihre gesellschaftliche, ökonomische und politische Hegemonie in Gefahr sehen.

Das Erstarken rechter Parteien ist nichts Überraschendes: der latente, subtile Rassismus und Nationalismus innerhalb bestimmter Teile der Mittelschicht tritt heute offen hervor und hat zudem eine politische Vertretung hervorgebracht. Es gibt keine „anständige“, weltoffene gesellschaftlich-politische Mitte, wie es oft suggeriert wird. Für die etablierten Parteien ist eine Entwicklung eingetreten, die sie nicht kontrollieren und lenken können.

Der weitere Verlauf hängt weitgehend davon ab, ob sich die „gemäßigten“ Kräfte in der AfD durchsetzen. Nur wenn sie ihre Koalitions- und Regierungstauglichkeit beweisen kann, werden sich für ihre Mitglieder Türen des Staats- und Regierungsapparats öffnen. Dort werden sie von den vielen Karrieremöglichkeiten und andere Annehmlichkeiten profitieren können.

Subtiler Rassismus war gestern

Die Entwicklung der vergangenen Jahre zeigt, dass die „breite Mitte der Gesellschaft“ ihre politischen Präferenzen neu bestimmt. Die SPD verliert dabei ihren früheren Einfluss auf bestimmte Teile der Mittelschicht. Ob sie es jemals wiedererlangen werden, ist eher unwahrscheinlich. Die gesellschaftlich-politische Bedeutung der „breiten Mitte“ wird weiterhin bestehen bleiben, aber politisch wird sie immer mehr nach rechts tendieren. Die Gefahr besteht also nicht darin, dass ein „rechter Rand“ immer stärker wird, sondern darin, dass die politische Ausrichtung der Mittelschicht sich insgesamt nach rechts verschiebt. Der latente, unterschwellige Rassismus und Antisemitismus der nationalen Spießbürger der Mittelschicht kommt heute immer mehr offen und auch gewalttätig zum Vorschein.

Abschied von Europa

Die großen Versprechungen, mit der die Mittelschicht für die europäische Idee gewonnen wurde, sind weitgehend unerfüllt geblieben. Der EU-Apparat hat sich inzwischen zu einem unüberschaubaren Bürokratie-Monstrum entwickelt, dessen Sinn vielen Menschen unbegreiflich ist. Die anfängliche Europa-Euphorie ist längst verflogen, die Sehnsucht nach dem alten, überschaubaren Nationalstaat wird immer stärker. Das europäische Projekt, ist für die kühl rechnenden und auf Wirtschaftlichkeit bedachten Angehörigen der Mittelschicht zudem wie ein Verlustgeschäft, das sie nicht länger unterstützen wollen. Warum sollten sie es auch tun, wenn sie darin keinen Mehrwert für sich erkennen können? Es ist deshalb wohl bezeichnend, dass der französische Präsident Macron, ein ehemaliger Investmentbanker, sich besonders vehement für die Rettung der EU einsetzt: Wenn die europäische Mittelschicht nicht mehr bereit ist, in die EU zu „investieren“, weil kein „Gewinn“ von ihr zu erwarten ist, dann geht das große, europäische Unternehmen namens EU bankrott.

Mit der befürchteten Wirtschaftskrise könnte es zu einem weiteren Erstarken der rechten Tendenzen in der Mittelschicht führen. Bei der bevorstehenden Wahl des Europäischen Parlaments wird sich zeigen, wie stark die Kräfte sind, die „zurück zum Nationalstaat“ wollen. Eine deutliche Niederlage der „proeuropäischen Parteien“ wäre wohl für die EU bedrohlicher als alle vorherigen Krisen. Die EP-Wahlen könnten also einen politisch-gesellschaftlichen Wendepunkt in der EU markieren.


[1] https://www.focus.de/finanzen/focus-titel-das-ende-der-mittelschicht-wie-wir-sie-kennen_id_10461346.html

[2] https://www.welt.de/politik/deutschland/article190389715/CDU-Politiker-Amthor-fordert-aktive-Auseinandersetzung-mit-der-AfD.html

[3] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/schweigen-ist-keine-loesung-cdu-abgeordneter-empfiehlt-koalition-mit-der-afd/9952126-3.html

Toros Sarian