Am 21. März, an dem Tag, als der von Präsident Kotscharian proklamierte Ausnahmezustand endete, unterzeichneten Serge Sarkisian, Gagik Tsarukian, Arthur Baghdasarian und Armen Rustamian einen Vertrag zur Bildung einer gemeinsamen Regierungskoalition. Als wichtigste Ziele wurden darin die Vertiefung der demokratischen Reformen, die Verbesserung der Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte und Reformen zur Hebung des Lebensstandards der Bevölkerung genannt. Die politischen Verhandlungen hinter den Kulissen, die bereits vor dem blutigen 1. März und der Verhängung des Ausnahmezustands begonnen hatten, waren also erfolgreich verlaufen.
Der seit zehn Jahren bestehenden Regierungskoalition, bestehend aus der Republikanischen Partei Armeniens und der ARF Daschnakzutiun, hatte sich nach den Parlamentswahlen im Mai 2007 Gagik Tsarukians Partei „Blühendes Armenien“ angeschlossen. Nun hat sich auch Arthur Baghdasarian und seine “Orinats Yerkir” diesem Regierungsbündnis angeschlossen. Einzige Opposition in der Nationalversammlung ist die Fraktion der Zharangutiun Partei des ehemaligen Außenministers Raffi Hovhannisian. Die Frage ist einerseits, ob die erweiterte neue „Große Koalition“ in der Nationalversammlung wirklich die politische Realität des Landes widerspiegelt und andererseits, ob die Bündnispartner ihre wohlklingenden Versprechungen einhalten werden. Mit der Verabschiedung eines neuen Gesetzes zur Einschränkung der Demonstrationsfreiheit haben sie schon signalisiert, in welche Richtung ihre Politik gehen wird.
Fakt ist, dass spätestens nach den Wahlen am 19. Februar sowohl in der Republik Armenien, als auch in der Diaspora eine politische Polarisierung entstanden ist, wie es sie bislang nicht gegeben hatte. Die Wahlmanipulation vom 19. Februar, die 10 Tage andauernden friedlichen Proteste von zehntausenden von Bürgern und schließlich das Blutbad vom 1. März haben tiefe Spuren hinterlassen. Die Verkündung des Ausnahmezustands hat die ohnehin eingeschränkte Pressefreiheit für 20 Tage vollständig abgeschafft. In den Redaktionen der kritischen und oppositionellen Presse hat man zum ersten Mal in aller Deutlichkeit gesehen, wer die Grenzen der Pressefreiheit bestimmt: Diejenigen, die an der Macht sind und um jeden Preis auch an der Macht bleiben wollen. Die Arroganz und brutale Willkür, mit der die Staatsorgane in den vergangenen Wochen alle kritischen Stimmen unterdrückt haben, lässt für die Zukunft nichts Gutes erahnen.
Der mächtige „Geschäftsmann“ Gagik Tsarukian, dessen Partei „Blühendes Armenien“ bei den Wahlen im Mai 2007 auf Anhieb zur zweitstärksten Fraktion in der Nationalversammlung wurde; die ARF Daschnakzutiun, die seit über 10 Jahren an der Regierungsmacht beteiligt ist und somit wesentlicher Bestandteil des korrupten, undemokratischen Systems geworden ist; die Partei Arthur Baghdasarians, der vor zwei Jahren als „Verräter“ verdammt wurde und sein Amt als Parlamentspräsident niederlegen musste, wollen also gemeinsam mit der Republikanischen Partei Armeniens, die sich als „national-konservativ“ definiert, das Land regieren. Die von Serge Sarkisian während der 20 Tage des Ausnahmezustands geschmiedete Große Koalition will angeblich all das verwirklichen, wofür auch diejenigen, die am 1. März niedergeknüppelt oder getötet wurden, eingetreten sind: Demokratie, Menschenrechte und bessere Lebensbedingungen. Sicher, unter der Großen Koalition wird in Armenien wieder „Ruhe, Ordnung, Stabilität und Sicherheit“ herrschen. In staatlichen Institutionen und in den Ministerien hat bereits eine politische Säuberung stattgefunden, bei der jeder, der verdächtigt wurde der Opposition anzugehören oder mit ihr zu sympathisieren, entlassen wurde. Die nach dem 1. März eingeleitete Verhaftungswelle hat die Opposition geschwächt. Die kritische und oppositionelle Presse wird dadurch unter Druck gesetzt, indem die Steuerfahndung gegen sie eingesetzt wird. Ist es ein Zufall, dass die Beamten des Finanzministeriums plötzlich feststellen, dass bestimmte Medien ihrer Steuerpflicht nicht nachkommen? In einem kleinen Land ist die Kontrolle von Oppositionsbewegungen relativ einfach, wenn man über einen gut funktionierenden Polizei- und Sicherheitsapparat verfügt und die Regierung den Staats- und Behördenapparat gegen die Opposition einsetzen kann. Wenn dann auch noch 95% der Abgeordneten der Nationalversammlung hinter der Regierung stehen und die erforderlichen Gesetze billigen, die die Einschränkung der Bürgerrechte legitimieren, dann bestehen optimale Voraussetzungen für die Schaffung von „Stabilität, Ruhe und Ordnung“.
Die künftige Politik in Yerevan wird also mehr denn je von der Sicherheitspolitik – nach außen und nach innen – bestimmt werden. Ein Blick auf den Werdegang Serge Sarkisians in den vergangenen fünfzehn Jahren zeigt, dass er in diesen Bereichen über die meisten Erfahrungen verfügt: 1993-95 Verteidigungsminister der RA, 1995-96 Minister für Nationale Sicherheit der RA, 1996-99 Minister für Inneres und Nationale Sicherheit der RA, 1999 Minister für Nationale Sicherheit, 1999-2000 Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats der RA, 2000-2007 Verteidigungsminister der RA. Der politische Aufstieg des Serge Sarkisian erfolgte – genauso wie die seines Freundes Robert Kotscharian – also bereits unter Levon Ter-Petrosyan. Für die damalige Unterdrückungspolitik gegenüber Oppositionellen war er als Minister für Inneres und Nationale Sicherheit mitverantwortlich. Seine in fünfzehn Jahren gesammelten Erfahrungen auf dem Felde der „Nationalen Sicherheit“ werden ihm heute dienlich sein – allerdings wohl eher, um seine eigene Herrschaft zu sichern.
Toros Sarian
02.04.2008