Yerevan

Vartan Oskanian entdeckt die Nation und verkündet die „Agenda für eine nationale Mobilisierung“

Nachdem die Staatspräsidenten Frankreichs, Russlands und der USA auf dem G-8 Gipfel im italienischen L’Aquila in einer Erklärung eine baldige Lösung des Karabach-Konflikts verlangt und zugleich eine aktualisierte Version der „Madrider Prinzipien“ vorgelegt haben, stellt sich die Frage, ob nun tatsächlich die „Endphase“ der Verhandlungen eingeläutet worden ist – wie Ilham Aliyew behauptet – oder ob die Erklärung von L’Aquila genauso wenig zu einer Lösung führen wird, wie die anderen Lösungsvorschläge der vergangenen Jahre. Im Juli fand in Berg-Karabachs Hauptstadt Stepanakert eine Konferenz statt, um angesichts der Entwicklung in den türkisch-armenischen Beziehungen und den Verhandlungen in der Karabach-Frage die „nationale“ Haltung zu bekräftigen: In beiden Fragen dürfe es kein Nachgeben auf armenischer Seite geben, lautete die Botschaft der Konferenz.

Als am 22. April eine „Roadmap“ zur Normalisierung der türkisch-armenischen Beziehungen bekanntgegeben wurde, entbrannte eine hitzige Debatte über die von Serge Sarkisian betriebene Türkei-Politik. Die ARF Daschnakzutiun, die sich über 10 Jahre lang an der korrupten Regierung beteiligt hat, nutzte die Gelegenheit, um sich aus der Koalition zu verabschieden. Nach der umstrittenen Wahl Serge Sarkisians im März 2008, hatte der parteilose Außenminister Vartan Oskanian, der ein hohes Ansehen im Land und in der Diaspora genoss, seinen Rücktritt bekanntgegeben. Zuvor hatte er allerdings sein Ministerium von Anhängern der Opposition gesäubert. Nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik gründete er die „Civilitas Foundation“. Auch Ex-Außenminister Raffi Hovannisian betreibt ein Polit-Institut namens „Armenisches Zentrum für Nationale und Internationale Studien“. In Yerevan herrscht zumindest kein Mangel an politischen Instituten und Stiftungen, die sich emsig mit „nationalen und internationalen Studien“ beschäftigen und am laufenden Band tiefschürfende Analysen der Gegenwart und Zukunft des Landes liefern.

Die innenpolitische Krise nach den Präsidentschaftswahlen wurde durch die unerwartete außenpolitische Entwicklung in den Hintergrund gedrängt. Sowohl für die ARF Daschnakzutiun als auch für den Ex-Außenminister ist dadurch eine günstige Situation entstanden, um sich als „nationale“ Opposition zu Serge Sarkisians Politik gegenüber der Türkei zu profilieren. Nachdem nun in der Karabach-Frage Anzeichen eines möglichen Kompromisses zu Lasten Armeniens sichtbar geworden sind, sieht sich der Präsident heftiger Kritik seitens seiner einstigen Verbündeten ausgesetzt. Der nationale Konsens, der Anfang 1998 zum Sturz Levon Ter-Petrosyans geführt hatte, sah eine unnachgiebige Politik in der Frage der Genozid-Anerkennung und bei der Verteidigung des Status quo in Berg-Karabach vor. Die Frage der Demokratie in Armenien spielte für keine der an der Regierung beteiligten Parteien und Politiker eine Rolle. Angesichts der „Belagerung“ durch die Türkei und Aserbaidschan und der Kriegsdrohungen gegen Berg-Karabach fiel es leicht, die Armenier im Land und in der Diaspora auf die Regierungspolitik einzuschwören. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit wurden gewissermaßen als ein Luxus betrachtet, die irgendwann in ferner Zukunft – nach Lösung der „nationalen Frage“ – auf die Tagesordnung kommen würden.

Die Kocharyan-Regierung konnte den Status quo in Berg-Karabach „einfrieren“ und lange Zeit mit Erfolg so erhalten. Nachdem aber die Region ins Blickfeld „strategischer Interessen“ gerückt und die Herstellung von „Sicherheit und Stabilität“ als eine wichtige Voraussetzung für den reibungslosen Transport des dort geförderten Öls erforderlich wurde, hat sich die Lage grundlegend geändert. Die armenischerseits gehegte stille Hoffnung, dass Berg-Karabach seine De-facto-Unabhängigkeit gewissermaßen von der Weltöffentlichkeit unbemerkt – und auch nicht anerkannt – fortsetzen kann, hat sich als eine trügerische Illusion herausgestellt. Serge Sarkisian, der als Minister für Nationale Sicherheit zugleich auch Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats war, hatte – wie die meisten der anderen führenden Politiker – die „aktive Einfrierung der Lage“ gefordert. Nachdem sich der damalige Präsident Levon Ter-Petrosyan mit seiner Forderung nach einer Kompromisslösung auf der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats im Januar 1998 nicht durchgesetzen konnte, trat er kurze Zeit später zurück.

Seit der Erklärung von L’Aquila ist viel über die weitere Entwicklung spekuliert worden. Der den Präsidenten Frankreichs, Russlands und der USA vorgeschlagene Lösungsrahmen kommt den Vorstellungen der Regierung in Baku auf jeden Fall sehr entgegen. Die Frage ist heute, was die Armenier tun können, um die Umsetzung dieser „Lösung“ zu verhindern. Der Ex-Außenminister Oskanian hat kürzlich in einer „Agenda zur nationalen Mobilisierung“ nicht nur eine kurze Analyse der gegenwärtigen Lage vorgelegt, sondern auch seine Vorstellung darüber, wie der bedrohlichen Entwicklung entgegengewirkt werden könnte. Auf den ersten Blick erscheinen seine Analyse und Vorschläge richtig, aber bei einer genaueren Betrachtung, stellen sich manche Fragen. Herrscht unter den Armeniern tatsächlich noch eine Uneinigkeit über die „nationalen“ Ziele?

Der Ex-Außenminister spricht noch immer wie ein Diplomat. Was er sagt hat kaum Substanz, es sind nur leere Floskeln, abgedroschene Phrasen, unbestimmte, vage Formulierungen, die er seit Jahren in verschiedenen Variationen wiederholt. Nach 10 Jahren als Außenminister hat Oskanian diese Art des Denkens und Sprechens so verinnerlicht, dass er sich heute nicht mehr anders ausdrücken kann. In der „Agenda zur nationalen Mobilisierung“, die auf seiner Rede auf der Konferenz in Stepanakert basiert und sich offensichtlich an alle Armenier richtet, steht kein Wort darüber, dass das Volk von Berg-Karabach am 2. September 1991 unter Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts die Republik Berg-Karabach ausgerufen hat und somit die Hauptaufgabe der Armenier darin besteht sollte, diese unter großen Opfern erkämpfte Unabhängigkeit zu verteidigen. Oskanian redet aber nicht davon, dass – wenn auch sehr spät – die Armenier dafür kämpfen müssen, dass die am 2. September 1991 verkündete Unabhängigkeit international Anerkennung findet. Für ihn besteht das Ziel der „nationalen Mobilisierung“ lediglich darin, das „Recht des Volkes von Berg-Karabach auf Sicherheit, Schutz und eine Zukunft in Würde“ durchzusetzen. Bei so viel Bescheidenheit wird er wohl weder bei Matthew Bryza noch Ilham Alijew auf Widerspruch stoßen.

Die Opposition – sowohl der ANC als auch die ARF Daschnakzutiun – macht sich die Sache sehr einfach, indem sie die ganze Schuld an der gegenwärtigen Lage der Regierung Serge Sarkisian zuschiebt. Vor allem der Ex-Außenminister tut so, als ob zu seiner Zeit alles ideal gelaufen sei und erst nach seinem Abgang eine verkehrte Außenpolitik betrieben wurde. Er verschweigt – bewußt oder unbewußt –, dass die Entwicklung nicht über Nacht bzw. erst nach der umstrittenen Wahl von Serge Sarkisian eingetreten ist, sondern viel früher. Serge Sarkisian wurde nach der Präsidentenwahl mit der unangenehmen Realität konfrontiert, dass die lange Zeit erfolgreich betriebene Politik des „aktiven Einfrierens“ nicht länger funktionierte.

Wie auch Vartan Oskanian in seiner Analyse der Lage feststellt, ist es auf internationaler und regionaler Ebene zu einer Reihe von wichtigen Veränderungen gekommen. Durch den russisch-georgischen Krieg im August 2008 hat sich erneut gezeigt, wie fragil die Lage im Südkaukasus ist. Die Türkei hat in den vergangenen Jahren sowohl international als auch regional seinen Einfluss erheblich ausbauen können. Vor ist es zu einer deutlichen Verbesserung der türkischen-russischen Beziehungen gekommen. Hinzu kommt, dass Aserbaidschans Bedeutung für den Westen rapide zugenommen hat und das Land mit den Einnahmen aus dem Öl eine massive Aufrüstung finanzieren konnte. Das ganze außenpolitische Gefüge, das lange stabil schien, hat sich allmählich verändert – zu ungunsten der Armenier.

Es ist natürlich einfach „nationale Standhaftigkeit“ zu demonstrieren und der Regierung Unfähigkeit vorzuwerfen, wenn man keine Regierungsverantwortung trägt und Zwängen ausgesetzt ist. „Als ich noch Außenminister war, lief doch alles gut!“, verkündet Vartan Oskanian. Eine solche Sichtweise der Dinge ist nicht nur falsch, sondern dient auch dazu, die eigene Mitschuld an der Misere zu vertuschen. Robert Kocharyan und auch Serge Sarkisian, die nach der Ermordung von Vazgen Sarkisian und Karen Demirdjian im Oktober 1999 die armenische Politik bestimmt haben, waren in außenpolitischen Fragen unerfahren. Sie hatten diese Aufgabe weitgehend dem Experten Vartan Oskanian überlassen.

Ein anderer Fehler der armenischen Führung bestand sicher auch darin, dass sie die Macht der armenischen Diaspora im Westen überschätzt haben. Die ARF Daschnakzutiun als Regierungspartner hat dazu beigetragen, dass in Yerevan der Eindruck entstand, es gebe im Westen eine mächtige armenische Lobby, die in der Lage sei, die armenische Außenpolitik zu unterstützen. In Wirklichkeit haben weder die armenischen Verbände in den USA noch in der EU nennenswerte Erfolge vorzuweisen – außer in der Frage der Anerkennung des Genozids. Die türkisch-aserbaidschanische Blockadepolitik konnte nicht beendet, die Umgehung der Republik Armenien bei den regionalen Projekten (Baku-Tiflis-Ceyhan Pipline und Kars-Tiflis-Baku Eisenbahn) nicht verhindert werden. Zugunsten der Anerkennung der Unabhängigkeit der Republik Berg-Karabach wurde nichts Nennenswertes unternommen.

Die „Patrioten“ aus der Republik Armenien, die sich einen Urlaub in Antalya leisten können, werden sich über die Zukunft der Bauern in Berg-Karabach vermutlich keine Gedanken machen. Am Strand erholen sie sich von der letzten nächtlichen Party in der Disco und denken bei einem kühlen Cocktail vielleicht darüber nach, wie sie im Falle einer Normalisierung der türkisch-armenischen Beziehungen Geschäfte machen könnten. Ob die Armenier in der Diaspora aber glaubwürdigere „Patrioten“ sind, weil sie eine „unnachgiebige Politik“ befürworten, ist allerdings auch zu bezweifeln. Seit der Unabhängigkeit hat sich die Diaspora eher damit begnügt, die Errungenschaften in Armenien und Berg-Karabach zu feiern und der Regierung mehr oder weniger blind zu vertrauen. Eine eigenständige Politik wurde nie formuliert. Mit dem parteilosen Vartan Oskanian und der ARF Daschnakzutiun sah sich die Diaspora in der Regierung gut vertreten. Die Anerkennung des Genozids stand im Zentrum ihrer Forderung. Die Verbände in der Diaspora konzentrierten somit ihre Kraft überwiegend auf diese Frage. Ein Blick auf z.B. die Erklärungen des „Armenian National Commitee of America“ genügt, um zu erkennen, dass Berg-Karabach stets eine zweitrangige Bedeutung neben der Anerkennung des Genozids spielte.

Die Diaspora hätte genauso entschieden und aktiv für die Forderung nach Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts für Berg-Karabach eintreten müssen, wie sie für die Anerkennung des Genozids eingetreten ist. Wenn die heute propagierte „nationale Mobilisierung“ 10 Jahre früher erfolgt wäre, hätte sie vielleicht etwas bewirken können. Aber leider haben die politisch Verantwortlichen in Yerevan und in der Diaspora alles andere getan, als die Armenier für eine offensive und aktive Politik zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts Berg-Karabachs zu mobilisieren. Gemäß der Regierungspolitik wurde geschwiegen und in der Hoffnung, die Verhandlungen würden im Sande verlaufen und die Aserbaidschaner ihren Anspruch auf Berg-Karabach irgendwann aufgeben, abgewartet. Heute wird deutlich, wohin diese Politik geführt hat.

Toros Sarian

10.08.2009