Toros Sarian

Über Erinnerungskultur und ein jüdisches Kanzleihaus in Essen

Ein Buch des deutschen Schriftstellers A.T. Wegner, der während des 1. Weltkrieges als Sanitätsoffizier im Osmanischen Reich Augenzeuge des Völkermordes an den Armenier wurde, trägt den Titel „Die Verbrechen der Stunde – die Verbrechen der Ewigkeit“. Dem an den Armeniern verübten „Verbrechen der Ewigkeit“ folgte das an den europäischen Juden. Die seit 1949 bestehende Völkermordkonvention konnte nicht verhindern, dass verschiedenen Teilen der Welt weitere Völkermorde verübt wurden: Der an den Tutsi in Ruanda, der gewissermaßen unter den Augen der UN und der gesamten Weltöffentlichkeit stattfand, ist ein trauriges Beispiel dafür. Doch beängstigend ist nicht nur die Tatenlosigkeit der „Weltöffentlichkeit“, sondern auch die Mittäterschaft mancher westlichen Staaten. So wurde Frankreich eine Mitschuld an dem Verbrechen in Ruanda vorgeworfen. Die Verhinderung von Völkermorden wird wohl auch in Zukunft eines der wichtigsten gesellschaftlich-politischen Aufgaben der Weltgemeinschaft bleiben.

Eine andere wichtige Frage ist die Auseinandersetzung mit Völkermorden, die „vergessen“, verdrängt oder geleugnet werden. Vor allem in Europa wird versucht, sie wieder in das kollektive Gedächtnis zurückzuholen. Dazu zählt der Völkermord an den Herero und Nama in der ehemaligen deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika und die Mitschuld der Reichsregierung am Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich während des 1. Weltkrieges. Erst 2016 hat der Deutsche Bundestag in einem Beschluss den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Völkern im Osmanischen Reich anerkannt und die Mitschuld der kaiserlichen Regierung bedauert. Diese war über das von ihrem türkischen Kriegsverbündeten verübte Verbrechen im Bilde, aber das Bündnis mit der türkischen Regierung war für Berlin letztlich wichtiger als die Armenier: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht“, schrieb Reichskanzler Bethman Hollweg in entlarvender Offenheit.

Über die Bedeutung der Erinnerungskultur werden auf Gedenkfeiern wohlklingende und ermahnende Reden gehalten, sie ist längst ein Forschungsfeld für Sozialwissenschaftler geworden. Im gesellschaftlichen Alltag hingegen spielt sie keine Bedeutung. Es fehlt die Bereitschaft, sich gedanklich mit tragischen und schmerzhaften geschichtlichen Ereignissen auseinanderzusetzen und vielleicht sogar einen persönlichen Beitrag zu leisten, um vergessenes und verdrängtes wieder in Erinnerung zu rufen.

Salomon und Anna Heinemann

Essen zählt sicherlich nicht zu den touristisch interessanten Städten Deutschland: Dortmund hat immerhin mit dem BVB eine Top-Fußballmannschaft zu bieten; das benachbarte Düsseldorf ist nicht nur die Landeshauptstadt von NRW, sondern auch ein wichtiger Wirtschaftsstandort. Aber Essen war einmal eine bedeutende Stadt, dessen Aufstieg eng mit der Industrialisierung Deutschlands verbunden ist. Kohle und Stahl bildeten die Grundlage dafür, dass das Ruhrgebiet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Zentrum der deutschen Industrie wurde. Untrennbar mit der Geschichte der deutschen Stahl- und Rüstungsindustrie verbunden ist der Name Krupp, der wohl bekanntesten und einflussreichsten Industriellenfamilie Deutschlands. Ihr Firmensitz befand sich in Essen.

Der (fast) vergessene und verdrängte Teil der Geschichte Essens ist die der dortigen jüdischen Gemeinde. Salomon und Anna Heinemann waren zwei herausragende Mitglieder dieser Gemeinde, deren Leben wenige Tage nach den Novemberpogromen 1938 auf tragisch Weise endete. Die Geschichte der Heinemanns ist beispielhaft für den Aufstieg des jüdischen Bildungsbürgertums und ihrer Hoffnung auf ein gleichberechtigtes Leben unter Beibehaltung ihrer Identität.

Die ursprünglich aus Rheine und Mühlheim stammenden Großeltern Salomon Heinemanns hatten sich um 1820 in Essen niedergelassen. Ihr Sohn Hermann Heinemann wurde am 25. Juni 1822, ihre Tochter Phillipine Jacobine am 5. September 1824 geboren.

Aus der Ehe von Hermann Heinemann und seiner Ehefrau Amalie gingen vier Kinder hervor. Salomon kam am 25. Juni 1865 auf die Welt. Von seinen drei Geschwistern ist nur der Name seines älteren Bruders bekannt, der Carl hieß. Hermann Heinemann wurde 1868 zum Vorsitzenden der Synagogengemeinde gewählt, was darauf hindeutet, dass er und seine Familie innerhalb der jüdischen Gemeinde eine besondere Stellung einnahmen.

Die Heinemanns lebten lange Zeit in einer Mietwohnung, ihre materielle Lage verbesserte sich aber so weit, dass sie Anfang 1880 ein eigenes Haus bezogen. Salomon Heinemann ging nach seinem Abitur zum Jurastudium nach Heidelberg; weitere Stationen seines Studiums bildeten Leipzig, Berlin und Göttingen. Ab März 1893 war er als Referendar in seiner Heimatstadt Essen tätig und im April 1893 promovierte er mit „summa cum laude“ an der Universität Leipzig. Bereits im darauffolgenden Monat begann er als Rechtsanwalt beim Landgericht Essen zu arbeiten.

Im April 1893 verlobte er sich mit Anna Wertheimer, die er am 10. März 1894 in Bielefeld heiratete. Als erfolgreicher Rechtsanwalt und Notar konnte er sich bald ein eigenes Haus leisten. Der Architekt Paul Schultze-Naumann, nach dessen Plänen das Haus 1909 erbauten wurde, schloss sich nach dem 1. Weltkrieg aufkommenden faschistischen Bewegung an, wurde 1930 Mitglied der NSDAP und zwei Jahre später Reichstagsabgeordneter der Partei. Er galt als einer der prominentesten Vertreter der von den Faschisten vertretenen Sicht über Kunst und Architektur.

Die Novemberpogrome 1938: Das blutige Ende einer fatalen Illusion

Sein beruflicher Erfolg und der damit einhergehende wachsende materielle Wohlstand ermöglichte es Salomon Heinemann, bei der Finanzierung des Synagogenbaus in Essen zu helfen. Besonders am Herzen lag ihm das Folkwang-Museum, an dessen Entwicklung er als Gründungsmitglied, langjähriges Vorstandsmitglied und juristischer Berater des Folkwang-Museumsvereins maßgeblich beteiligt war. Als Kunstliebhaber verfügte er über eine bedeutende Privatsammlung, die er bereits zu Lebzeiten testamentarisch der Stadt Essen vermachte, was von seiner Verbundenheit mit seiner Heimatstadt zeugt.

Der erfolgreiche Jurist und Notar erhielt am 6. April 1912 den Titel Justizrat. Die gemeinsam mit seinem Neffen Dr. Wilhelm Aschaffenburg und Dr. Witte betriebene Kanzlei war die bedeutendste der Stadt. Zu den Klienten gehörten nicht nur Privatpersonen, sondern auch zahlreiche große Wirtschaftsunternehmen wie das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat.

Salomon und Anna Heinemann waren also zwei angesehene Angehörige des jüdischen Bildungsbürgertums, und es schien so, als ob sich mit der Gründung der Republik die Lage der Juden in Deutschland verbessern würde. Ihre mit der bürgerlichen Gesellschaft verbundenen Hoffnungen wurden zwar immer wieder enttäuscht, doch noch waren die meisten weiterhin davon überzeugt, dass sich ihre rechtliche, gesellschaftliche und politische Lage unumkehrbar verbessern werde. Spätestens mit den Novemberpogromen 1938 wurde diese fatale Illusion von der brutalen Realität des Faschismus zerschlagen.

Nachdem die NSDAP die Macht übernommen hatte, wurden die Juden zur Zielscheibe des Hasses, der Diskriminierung und Ausgrenzung. Salomon und Anna Heinemann entschieden sich trotz der bedrohlichen Entwicklung in Essen zu bleiben. In ihrem letzten Lebensabschnitt mussten sie erleben, wie alles, was sie aufgebaut und wofür sie gelebt hatte, zerstört wurde.

Die Pogromnacht des 9. zum 10. November 1938 bedeutete für sie eine traumatische Erfahrung: Mitten im Schlaf wurde das alte Ehepaar ihn ihrem Haus von einer SA-Horde überfallen, ihr Haus verwüstet und mitsamt der dort befindlichen wertvollen expressionistischen Kunstsammlung in Brand gesteckt. Nach dem tiefen Schock der Pogromnacht sahen Salomon und Anna für sich keinen anderen Ausweg als den Freitod: Salomon Heinemann starb am 16. November; seine geliebte Frau Anna war bereits zwei Tage vorher an den Folgen einer Leuchtgasvergiftung gestorben. Das Kanzleihaus Salomon Heinemanns sollte aber diese dunkle Zeit überstehen und zwischen seinen Mauern die Erinnerung an den Bauherren und seine Frau aufbewahren. Viele Jahrzehnte später wurde durch ein bemerkenswertes Projekt an die tragische Geschichte dieser zwei jüdischen Bürger Essens erinnert.

Ein Haus erinnert an seinen Bauherren

Auf dem Höhepunkt seiner beruflichen Laufbahn hatte sich Salomon Heinemann in der Zweigert Straße 50 ein prächtiges Kanzlei- und Wohnhaus bauen lassen. Der Architekt des 1913/14 erbauten Hauses war Edmund Körner. Nach seinen Plänen war kurz zuvor im Stadtzentrum Essens die Synagoge für die jüdische Gemeinde gebaut worden. Während der Novemberpogrome 1938 wurde sie in Brand gesteckt; doch der Plan, sie gänzlich zu zerstören, konnte nicht umgesetzt werden, weil durch eine Sprengung des aus Stahlbeton errichteten Gebäudes die umliegenden Häuser beschädigt worden wären. Die Synagoge überstand den 2. Weltkrieg weitgehend unbeschadet, wurde 1959 von der Stadt erworben, diente anschließend als Museum für Industriedesign und ist heute das Haus jüdischer Kultur.

Kanzleihaus HeinemannDas Kanzlei- und Wohnhaus Heinemanns wurde während der Nazi-Herrschaft vom Katasteramt genutzt; nach Kriegsende gehörte es zeitweilig einem Bergwerksunternehmen; von1976 bis 2006/07 war darin zuletzt die Staatsanwaltschaft Essen untergebracht. Mehrere Jahre stand das Gebäude dann leer, niemand schien sich dafür zu interessieren.

Die Stadt versuchte das 2012 unter Denkmalsschutz gestellte Gebäude zu verkaufen, doch potenzielle Investoren wurden durch die vorgegebenen Auflagen abgeschreckt. Der Düsseldorfer Projektentwickler Albert Sevinc hielt es anfangs ebenfalls für eine wirtschaftlich riskante Investition, dann entschloss er sich doch noch, das Gebäude zu kaufen. In der Folgezeit wurde ihm allmählich klar, dass das Gebäude eine besondere Geschichte hatte.

Der aus Midyat, einer Kleinstadt im äußersten Südosten der Türkei stammende Architekt und Projektentwickler Albert Sevinc ist aramäisch-armenische Herkunft. Die Geschichte der christlichen Aramäer und Armenier im Osmanischen Reich – und der nachfolgenden Republik Türkei – war gekennzeichnet durch Diskriminierung, Unterdrückung, Vertreibung und Völkermord. Und lange Zeit mussten Aramäer und Armenier dafür kämpfen, damit das an ihnen verübte Völkermordverbrechen von der Welt anerkannt wurde, wobei es von der Türkei weiterhin geleugnet wird. Somit wusste Albert Sevinc, was es heißt, wenn Opfer eines Völkermordes vergessen werden.

Für ihn stand fest, dass es nicht nur um die Restauration eines denkmalgeschützten Hauses ging, sondern um die Rekonstruktion der vergessenen Geschichte zweier jüdischer Bürger Essens. Nach vielen Jahrzehnten wurde die verborgene Bestimmung des Kanzleihauses erfüllt: die Erinnerung an Salomon und Anna Heinemann lebendig zu halten.

In dem nach umfangreichen Restaurationsarbeiten wieder im alten Glanz erstrahlenden ehemaligen Kanzlei- und Wohnhaus fand am 16. November 2016 eine eindrucksvolle Gedenkveranstaltung für Salomon und Anna Heinemann statt. Albert Sevinc und der Architekt Mirko Radke gaben zudem das Buch „Kanzleihaus Salomon Heinemann. Ein Haus und seine Geschichte“ heraus. Am Haus wurde eine Tafel angebracht, um an Salomon, Anna Heinemann sowie den Architekten Edmund Körner zu erinnern.

Vielleicht war es Albert Sevinc bestimmt, die Erinnerung an diese zwei jüdischen Bürger in das kollektive Gedächtnis zu holen. Der aramäisch-armenische Architekt aus dem fernen Midyat leistete jedenfalls einen bemerkenswerten Beitrag für die Erinnerungskultur. Die Stadt könnte es ergänzen, indem sie den Platz vor dem Kanzleihaus nach Salomon und Anna Heinemann benennt. Im November 2018 steht der 80. Jahrestag der Novemberpogrome bevor, also ein geeigneter Anlass, um dies zu tun. Ob die Stadt Essen dem Beispiel von Albert Sevinc folgt, werden wir also in einem Jahr sehen.

Toros Sarian

Weiterführende Links:

https://vimeo.com/194346174

http://www.as-planenundbauen.de/wp-content/uploads/2017/05/KANZLEIHAUS_SALOMON_HEINEMANN.pdf

Der Artikel erschien auch auf Hagalil.com