Yerevan

Über den blutigen 1. März und die Geheimdiplomatie der armenischen Regierung

Nicht nur der 95. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich rückt immer näher, sondern auch die Entscheidung der Parlamente in Ankara und Yerevan über die am 10. Oktober 2009 unterzeichneten armenisch-türkischen Protokolle. Während Oppositionsführer Levon Ter-Petrosyan sich mit Kritik an der Türkei-Politik der Regierung unter Serge Sarkisyan eher zurückhält, ist damit zu rechnen, dass die ARF Daschnakzutiun und einige kleine, mit ihr verbündete Parteien, die Proteste gegen die Ratifizierung der Protokolle in den kommenden Wochen verstärken werden.

Für Serge Sarkisyan stellen die beiden Oppositionslager keine ernsthafte Bedrohung dar, solange sie sich nicht gegen ihn verbünden. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist aber sehr gering. Ungefährlich für den Präsidenten ist die Opposition auch deshalb, weil sie keine Unterstützung aus dem Ausland erhält – weder vom Westen, noch von Moskau. Die USA und die EU drängen bekanntlich seit vielen Jahren die Türkei und die Republik Armenien zu einer Normalisierung ihrer Beziehungen. Dies ist auch der Wunsch der Regierung in Yerevan, aber Ankara schien lange Zeit kein Interesse daran zu haben. Als wichtigster Verbündeter Azerbaidschans fühlte sich die Türkei verpflichtet, die 1994 verhängte Blockade gegen die Republik Armenien fortzusetzen. Die Erfolge der Armenier bei der internationalen Anerkennung des Völkermords und ihre Weigerung den heutigen Grenzverlauf zwischen den beiden Staaten anzuerkennen, bildeten zwei weitere Gründe für die türkische Blockadepolitik. Der wirtschaftliche Schaden, der dadurch entsteht, wird auf jährlich über 500 Millionen Dollar beziffert. Für ein so kleines Land wie Armenien ist dies eine beträchtliche Summe. Die türkische Blockade machte Armenien auch von Georgien abhängig. Während des georgisch-russischen Krieges in Süd-Ossetien, der zu einer zeitweiligen Unterbrechung der Verbindung zwischen der Republik Armenien und den georgischen Häfen an der Schwarzmeerküste führte, wurde deutlich, wie sehr das Land von der Lage in Georgien abhängig ist.

Aber nicht nur der Westen und die Regierung in Yerevan sind an einer Normalisierung der türkisch-armenischen Beziehung interessiert: Russland, der wichtigste Verbündete der Armenier, ist offensichtlich ebenfalls daran interessiert. Die Geheimverhandlungen und die Normalisierung der türkisch-armenischen Beziehungen sind somit ein gemeinsames Projekt Washingtons, der EU und Moskaus. Bei der Unterzeichnung der Protokolle am 10. Oktober 2009 wurde dies deutlich sichtbar: Hillary Clinton, Javier Solana und Sergej Lawrow standen als strahlende Paten im Hintergrund, als die Außenminister der Türkei und der Republik Armenien ihre Unterschriften unter die zwei Protokolle setzten. Obwohl die Beziehungen zwischen Washington und Moskau, nach dem russisch-georgischen Krieg in Süd-Ossetien deutlich abgekühlt war, hatten beide ihre Bemühungen für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und der Republik Armenien erfolgreich vorangetrieben.

Als 2007 die türkisch-armenischen Geheimverhandlungen in der Schweiz aufgenommen wurden, war absehbar, dass Serge Sarkisyan die Nachfolge von Robert Kocharyan antreten würde. Weder der Westen, noch Moskau zweifelten an seinem Wahlsieg. Wie es zustande kommen würde, spielte für sie keine Rolle. Levon Ter-Petrosyans Gegner behaupteten immer wieder, der Ex-Präsident werde sich im Falle einer Rückkehr an die Macht kompromissbereit gegenüber der Türkei zeigen und in der Karabach-Frage Zugeständnisse an Azerbaidschan machen. Doch sowohl die türkische Regierung als auch die türkischen Medien haben im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen auffällig zurückgehalten. Die Türkei wusste, dass ein Abkommen mit einem „Hardliner” abgeschlossen werden musste und nicht mit einem Präsidenten, der innerhalb der eigenen Bevölkerung ohnehin unter dem Verdacht stand, zu kompromissbereit zu sein. Serge Sarkisyan ist der starke Mann, der den Sicherheitsapparat und die Armee fest im Griff hat. Nachdem er auch den Vorsitz der Republikanischen Partei übernahm, verfügte er im Gegensatz zu Kocharyan über eine eigene Partei mit 130.000 Mitgliedern. Zudem bildet die Partei die mit Abstand größte Fraktion in der Nationalversammlung. Ministerpräsident Tigran Sarkisyan, der als „unabhängiger Technokrat” galt, ist inzwischen ebenfalls Parteimitglied. Seit der Unabhängigkeit 1991 hatte kein Präsident so viel Macht wie Serge Sarkisyan. Für die Türkei war er somit der eigentliche Verhandlungspartner auf armenischer Seite.

Levon Ter-Petrosyan, der sich seit seinem Rücktritt vom Präsidentenamt 10 Jahre lang nicht am politischen Leben beteiligt hatte, dürfte mit seiner Kandidatur für das Präsidentenamt im Westen für einige Überraschung und Unruhe gesorgt haben. Der Ex-Präsident war der Einzige, der den als sicher geltenden Wahlsieg Sarkisyans gefährden konnte. Ein möglicher Wechsel an der Staatsführung hätte aber aus Sicht des Westens ungeahnte Folgen mit sich gebracht. Vor allem stellte sich die Frage, ob eine von Levon Ter-Petrosyan geführte Regierung in der Lage sein würde, die laufenden Geheimverhandlungen überhaupt fortzusetzen. In Moskau vertraute man Levon Ter-Petrosyan ohnehin nicht.

Unter den Diaspora- Armenier wurde Serge Sarkisyan als Garant für die Sicherheit und Stabilität des armenischen Staates und der Unabhängigkeit Berg-Karabachs angesehen. Weil Levon Ter-Petrosyan während seiner Regierungszeit die ARF Daschnakzutiun in der Republik Armenien verboten hatte, setzte die in der Diaspora einflussreichste Partei alles daran, seine Rückkehr in das Präsidentenamt zu verhindern. Die Gegner Levon Ter-Petrosyans behaupteten, der Westen wolle nach dem Muster in Georgien und der Ukraine eine Regierung in Yerevan an die Macht bringen, die ihre Interessen vertritt. Doch trotz erheblicher Manipulationen und Fälschungen erkannte der Westen die Wahl von Serge Sarkisyan an, die Massendemonstrationen in Yerevan wurden von den Regierungen, Medien und der Öffentlichkeit im Westen mehr oder weniger ignoriert. Selbst als die Sicherheitskräfte am 1. März 2008 mit aller Härte gegen die Opposition vorging und dabei 10 Menschen ums Leben kamen, führte dies nicht zu der erwarteten Empörung und Kritik im Westen.

Der neue Präsident wusste, dass der Westen vor allem daran interessiert war, dass sich die Lage in der Republik Armenien möglichst bald stabilisierte und die Geheimverhandlungen fortgesetzt wurden. Innerhalb der Opposition wusste allerdings niemand, dass unter der Schirmherrschaft des Westens und Russlands seit einiger Zeit Geheimverhandlungen zwischen Ankara und Yerevan geführt wurden. Die Oppositionsführer in Yerevan konnten nicht ahnen, dass die USA und die EU längst auf Serge Sarkisyan gesetzt hatten, weil sie eine Regierung favorisierte, die einerseits das Vertrauen Moskaus besaß und andererseits bereit war, die vom Westen in die Wege geleiteten Geheimverhandlungen fortzusetzen. Der Westen war nicht an einer Demokratisierung in der Republik Armenien interessiert, sondern an Stabilität und Kontinuität unter einer starken, erfahrenen Regierung, die bereit war, mit ihr zu kooperieren. Obwohl die Regierung in Yerevan als treuer Verbündeter Moskaus gilt, hat sie in den vergangenen Jahren ihre Beziehungen zum Westen stetig ausgebaut. Sie hat auf Wunsch der NATO bzw. der USA armenische Soldaten in den Kosovo und Irak geschickt. Jetzt werden in Deutschland armenische Soldaten für ihren Einsatz in Afghanistan vorbereitet. Die Zusammenarbeit zwischen der Republik Armenien und der NATO ist ebenfalls immer weiter ausgebaut worden. Mit dem Projekt der „Ost-Partnerschaft” versucht die EU ihren wirtschaftlich-politischen Einfluss in Osteuropa und im Süd-Kaukasus zu vertiefen.

Es gab also einen wichtigen Grund, warum die Öffentlichkeit erst nach der Präsidentenwahl von den Geheimverhandlungen erfahren durfte: Der Wahlkampf wäre ganz anders verlaufen und Serge Sarkisyan hätte kaum eine Chance gehabt, die Wahl zu gewinnen, wenn die Bevölkerung erfahren hätte, dass das Duo Kocharyan/Sarkisyan sich auf Geheimverhandlungen mit der türkischen Regierung eingelassen hatte. Die Wähler, die Serge Sarkisyan ihre Stimme gegeben hatten, wussten nicht, dass die „nationalen Hardliner” längst dabei waren, die „nationalen Interessen” am Verhandlungstisch zu verspielen. Der eigentliche Wahlbetrug lag also darin, dass Serge Sarkisyan sich als „Hardliner” gab und die Bevölkerung täuschte. Weite Teile der Diaspora, die ebenfalls davon ausgingen, dass Serge Sarkisyan die Politik seines Vorgängers Kocharyan fortsetzen würde, wurden ebenfalls getäuscht.

Wenn der Ex-Präsident erneut an die Macht gelangt wäre, hätte er sicher die bereits laufenden Verhandlungen fortgesetzt. Wie wären aber die Reaktionen gewesen, als im Juli 2008 die Nachricht von den Geheimverhandlungen bekannt wurde? Was wäre wohl passiert, wenn nicht Serge Sarkisyan, sondern Levon Ter-Petrosyan den türkischen Präsidenten Abdullah Gül nach Yerevan eingeladen hätte? Vor allem stellt sich die Frage, was nach dem 23. April 2009 passiert wäre. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass ein Präsident Levon Ter-Petrosyan innerhalb der Republik Armenien und in der Diaspora sehr schnell einen breiten und entschiedenen Widerstand gestoßen wäre. Er hätte sich im Gegensatz zu Serge Sarkisyan vermutlich nicht nach Beirut, Los Angeles oder Paris getraut, um dort für die Protokolle zu werben. Möglicherweise wäre es zu Unruhen und zu einer Destabilisierung des Landes gekommen. In der Nationalversammlung hätte Levon Ter-Petrosyan ohnehin über keine Mehrheit verfügt. Ob er überhaupt bis zum 10. Oktober 2009 durchgehalten hätte, ist äußerst fraglich.

Nichts fürchtete der Westen aber mehr als eine Destabilisierung des Landes und damit ein Scheitern der Geheimverhandlungen. Deshalb setzte sie bereits vor den Präsidentschaftswahlen klar auf Serge Sarkisyan. Aus Sicht des Westens gab und gibt keine andere verlässliche politische Alternative. Serge Sarkisyan hat die Erwartungen des Westens und Moskaus erfüllt. Jetzt hofft er, dass sie im Gegenzug Druck auf die Türkei ausüben, damit die „Normalisierung” der armenisch-türkischen Beziehungen nicht von einer Lösung der Karabach-Frage abhängig macht. Die Annahme der 3. türkischen Bedingung wäre das Ende der Regierung in Yerevan.

Toros Sarian