Nachdem Andrea Nahles von ihren Posten als Fraktions- und Parteivorsitzende zurückgetreten ist, kommt im Land der Stabilitätsfetischisten allmählich Angst vor einem möglichen politischen Chaos auf. Andererseits müssten diejenigen Nahles dankbar sein, die von der unerträglichen Stabilität des herrschenden Systems und dessen verantwortungsbesessenen Politiker genervt sind und sich einen grundlegenden Wandel wünschen.
Innerhalb und außerhalb der SPD zeigten sich viele bestürzt und überrascht über den Rücktritt, doch der Einzige, der geschockt sein dürfte, ist Olaf Scholz. Er hatte sich nach dem Wahldebakel im September 2017 vehement für die Fortsetzung der GroKo eingesetzt.
Der Herr der Seilschaften: Olaf Scholz
Mehrmals schien die Polit-Karriere von Scholz am Ende zu sein: „Der tiefe Fall eines gewieften Taktikers“, lautete die Überschrift eines Artikels der Welt am Sonntag im Februar 2004.[1] Aber der „gewiefter Taktiker“ stand schnell wieder oben. Auf dem Parteitag im Dezember 2017 wurde er als „Reservemann ohne Rückhalte“ bezeichnet. „Er gilt als zweitmächtigster Mann in der SPD, doch beim Parteitag kassierte Olaf Scholz eine heftige Klatsche“ als er mit 59,2 Prozent das schlechteste Ergebnis aller Vize-Parteichefs erhielt.[2] Weder ein tiefer Fall noch eine heftige Klatsche auf dem Parteitag konnten ihn davon abhalten, seinen Weg fortzusetzen: Der „Reservemann ohne Rückhalte“, der sich vehement für die Fortsetzung der GroKo einsetzte, wurde Vizekanzler und Finanzminister.
Wenn die SPD in einer tiefen Krise steckt, dann vor allem deshalb, weil unter Hinweis auf eine vermeintliche Notwendigkeit „Verantwortung“ übernehmen zu müssen, Machtpolitiker wie Scholz sich immer durchsetzen konnten. Nahles folgte auch dieser Logik. Mittel- und langfristig wäre der Verzicht auf eine Regierungsbeteiligung für sie und ihre Partei sicherlich besser gewesen. Sie hätte genügend Zeit gehabt, um sich als Oppositionsführerin in eine starke Position zu bringen. Eine Rolle, die ihr auch gepasst hätte. Für Olaf Scholz wäre das eine schlechte Option gewesen, denn als Oppositionspolitiker ist er gänzlich ungeeignet und in einer erneuerten – möglicherweise linkeren – SPD hätte er keine Rolle mehr gespielt.
In der SPD gibt es niemanden, der sich mehr Sorgen um seine politische Zukunft macht als Scholz. Die Sozialdemokraten sollten sich fragen, wie jemand weitermachen konnte, der 2004 tief gefallen war als „zweitmächtigster Mann in der SPD“. Vielleicht hat die SPD eine Vorliebe für den Genossen mit dem „Charisma eines Sparkassenvertreters“.[3] Kein Wunder also, dass er bei der Ressortverteilung das Finanzministerium für sich beanspruchte. Aber damit nicht genug: Er sieht sich als zukünftiger Kanzlerkandidat, denn „wenn man Umfragen trauen darf“, so Scholz noch im Januar 2019, “zähle ich schließlich zu den Politikern mit hoher Unterstützung bei Bürgerinnen und Bürgern und SPD-Anhängern.“[4] Das sagte der Möchtegernkanzlerkandidat einer Partei, die bei der Europawahl 15, 8 % erhielt [5], in der SPD-Hochburg Hamburg auf 19,8 % abstürzte [6] und bei Umfragen zwischen 12 % und 15 % liegt.
Vorwärts und alles vergessen
Es wird heftig darüber debattiert, wie die SPD ihre Krise überwinden kann. Für „Die Zeit“ scheint die ganze Angelegenheit klar zu sein: „Will die SPD als relevante Kraft überleben, muss sie jetzt das tun, was sie nicht mag: radikal sein. Sie muss einen inhaltlichen und personellen Schnitt wagen. Und das bedeutet, die Große Koalition zu verlassen. Sie muss sozialdemokratische Ideen für die digitalen, demografischen, klima- und sozialpolitischen Herausforderungen entwickeln. Oder, um es pathetischer zu machen: Sie muss daran glauben, gebraucht zu werden. Und das mit neuen Schwerpunkten beweisen.“[7] Die eigentliche Aufgabe ist jedoch, dass die SPD sich so radikal erneuert, dass karrieresüchtige, gewiefte Taktiker keine Chance mehr haben, in höchste Parteiämter zu gelangen.
Die Mechanismen in Parteien begünstigen Kungelei, Kumpanei und Seilschaften. Solange dadurch Karrieristen, Parteibürokraten und „gewiefte Taktiker“ weiterhin an die Schalthebel der Partei gelangen, um ihre eigenen Ambitionen durchzusetzen, wird sich an der Misere nichts ändern. Die Aussicht auf eine radikale Erneuerung der SPD ist gering. Das aus verschiedenen „Flügeln“ bestehende Parteiestablishment hat kein Interesse daran, dass die bestehenden Strukturen und Mechanismen der Partei umgekrempelt werden und sie ihren Einfluss verliert. Mit einigen geringfügigen Veränderungen, den üblichen Durchhalteparolen, pathetischen Phrasen und etwas Selbstkritik werden sie versuchen, die Parteibasis zu beruhigen. Die GroKo aufzukündigen und einige neue „Hoffnungsträger“ nach oben zu befördern, wäre auch keine wirkliche Lösung. Aber abgesehen davon: in der SPD gibt es keine „Hoffnungsträger“, sondern nur Möchtegernminister und Möchtegernkanzler. Wenn sich aber der Abwärtstrend fortsetzt, wird es nach der nächsten Bundestagswahl nur noch eine deutlich geschrumpfte SPD-Fraktion geben. Eine grauenvolle Vorstellung für „gewiefte Taktiker“, deren politisches Lebensziel darin besteht, „Regierungsverantwortung“ zu übernehmen.
[1] https://www.welt.de/print-wams/article106369/Der-tiefe-Fall-eines-gewieften-Taktikers.html
[2] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/olaf-scholz-beim-spd-parteitag-gestraft-und-geschrumpft-a-1182392.html
[3] https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/spd-und-frauen-warum-tritt-olaf-scholz-nicht-zurueck-a-1270708.html
[4] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/vizekanzler-scholz-bringt-sich-als-spd-kanzlerkandidat-ins-spiel-15974959.html
[5] https://www.bundeswahlleiter.de/europawahlen/2019/ergebnisse/bund-99.html
[6] https://www.europawahl-hh.de/wahlen.php?site=left/gebiete&wahltyp=1#
[7] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-06/andrea-nahles-ruecktritt-spd-kevin-kuehnert-grosse-koalition