Die Ereignisse, die vor, während und nach den Präsidentschaftswahlen in Armenien stattgefunden haben, sind für uns alle beunruhigend. Wir sind alle mehr oder weniger überrascht worden, als zahlreiche Bürger in der Hauptstadt Yerevan offen und deutlich ihren Unmut über die Wahlfälschung geäußert hat. Seit Gründung der Republik im Jahre 1991 haben die Bürger Armeniens keine einzige, wirklich faire und demokratische Wahl gehabt. Eine Republik, die wirklich diesen Namen verdient, ist eine demokratische Staatsform, wo die Bürger in freien und fairen Wahlen ihre Regierung wählen. Wenn in der Republik Armenien bis heute noch keine Wahl stattgefunden hat, die nicht gefälscht war, dann bedeutet dies, dass in diesem Land die grundlegende Voraussetzung einer demokratischen Entwicklung fehlt.
Das Volk ist sich dessen bewusst, dass die Regierenden ihnen dieses grundlegende Recht bislang vorenthalten. Sie haben bereits bei vorhergehenden Wahlen, die ebenfalls gefälscht wurden, dagegen protestiert. Alle ihre bisherigen friedlichen Proteste, wie z.B. bei den Präsidentschaftswahlen 1996, wurden gewaltsam unterdrückt. Heute ist die Wut und Entschlossenheit in der Bevölkerung größer denn je. Die Bürger Armeniens sind nach 17 Jahren Unabhängigkeit selbstbewusster geworden und fordern ihre demokratischen Rechte ein. Diejenigen Kräfte, in deren Händen sich seit der Unabhängigkeit die politische und ökonomische Macht konzentriert, wollen unbedingt ihre Herrschaft fortzusetzen, wenn nötig mit Wahlfälschung, Gewalt und schließlich mit der Verhängung des Ausnahmezustands.
Vermutlich haben die regierenden Kräfte nicht damit gerechnet, dass die Opposition einen solchen Zulauf erhalten würde. Doch der Unmut, der sich durch die mehrmaligen Wahlfälschungen aufgestaut hatte, entlud sich diesmal in einem für viele überraschenden Ausmaß: In den zehn Tagen nach der Wahl wuchs die Protestbewegung rapide an und stellte schließlich eine ernsthafte Bedrohung für die gegenwärtige Regierung dar. Wenn es sich nicht um das Amt des Präsidenten gehen würde, hätten sich die Kontrahenten vielleicht geeinigt. Am 19. Februar und danach ging es aber um die Frage Levon Ter-Petrosyan oder Serge Sarkisian.
Vielleicht besteht die Tragik der ganzen Situation darin, dass niemand letztendlich weiß, wie viel Stimmen die einzelnen Kandidaten bei einer fairen und freien Wahl wirklich bekommen hätten. Man kann darüber nur spekulieren, was passiert wäre, wenn es zu einer Stichwahl zwischen den zwei bestplatzierten Kandidaten gekommen wäre. Es ist letztlich nicht ausgeschlossen, dass Serge Sarkisian am Ende tatsächlich gewonnen hätte. Wenn die Wahlen wirklich fair und demokratisch abgelaufen wären, hätte es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht eine solche Entwicklung gegeben, wie wir es nach dem 19. Februar erlebt haben. Gegen einen durch demokratische Wahlen gewählten Präsidenten Serge Sarkisian hätte es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht einen solchen Widerstand gegeben. Er hätte als der Erste, durch wirklich faire Wahlen gewählte Präsident in die Geschichte der jungen Republik eingehen können.
Es war schon seit Jahren absehbar, dass Serge Sarkisian als Nachfolger seines Freundes und politischen Weggefährten Robert Kotscharian für das Präsidentenamt kandidieren würde. Neben Robert Kotscharian war Serge Sarkisian seit der Ermordung von Vazgen Sarkisian und Karen Demirchian der mächtigste Politiker des Landes. Als „Thronfolger“ seines Freundes hatte er somit genug Zeit, Möglichkeiten, Erfahrung und auch die Mittel, um in den vergangenen Jahren für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu sorgen. Er hätte konsequenter gegen die weit verbreitete Vetternwirtschaft und Korruption vorgehen können. Als ein Armenier aus Berg-Karabach hätte er mit einer solchen Politik mehr Sympathien für die Armenier aus Berg-Karabach gewonnen und damit die nationale Einheit gestärkt. Alles, was er der Bevölkerung heute verspricht, hätte er in den vergangenen zehn Jahren längst durchsetzen können – wenn er es gewollt hätte. Doch Serge Sarkisian hat diese Chance nicht genutzt. Darin liegt sein größter politischer Fehler.
Toros Sarian
22.03.2008