„Die Welt reicht für uns alle“ lautet der Titel des Buches von Sarkis Çerkezyan, das leider nur in türkischer Sprache vorliegt. Am Montag starb Sarkis Çerkezyan im Alter von 93 Jahren in Istanbul. Der Sohn eines ehemals wohlhabenden Bankers aus der anatolischen Stadt Karaman kam 1916 in einem Ort in der syrischen Wüste auf die Welt. Die Geschichte Sarkis Çerkezyans und seiner Familie ist wie ein Spiegelbild der Geschichte der Armenier in der Türkei.
Sarkis Çerkezyans Mutter stammte aus Tokat, wo 1895 – genauso wie in anderen Teilen des Osmanischen Reiches – Armeniermassaker stattfanden. Sie hatte Glück und kam mit dem Leben davon. Der Vater stammte aus der Provinz Kayseri. Sein älterer Bruder wurde 1909 während der Massaker in Adana ermordet.
Sarkis Çerkezyan erzählt in dem Buch, wie noch vor dem Massaker von Adana aus Istanbul ein armenischer politischer Aktivist nach Karaman kam und die dortigen Armenier warnte, dass ihnen in den kommenden Jahren schlimmes bevorstehen werde. Er riet ihnen, Vorkehrungen zu treffen, um sich schützen zu können. Niemand wollte auf seine Warnung hören. Gazaros Çerkezyan und sein Bruder vertrieben ihn schließlich aus der Stadt, weil sie meinten, er würde Unruhe schüren. Einige Jahre sollte sich das, wovor der Mann aus Istanbul gewarnt hatte, bewahrheiten.
Als Überlebende des Genozids kehrte die Familie in ihre Heimatstadt Karaman zurück. Die Hoffnung, dass sie dort wieder ein neues Leben beginnen könnten, erwies sich aber sehr schnell als Illusion. Kurz nach dem verlorenen Krieg nahmen die türkischen Nationalisten unter Führung von Mustafa Kemal Pascha den Kampf zur Wiederherstellung der türkischen Herrschaft wieder auf und siegten.
Der einst wohlhabende Banker Gazaros Çerkezyan, der alle seine Besitztümer verloren hatte, schickte seine Frau und seine Kinder nach Istanbul. Die Kinder sollten dort eine armenische Schule besuchen. Aber die verarmte Familie konnte die Ausbildung nicht finanzieren. Sarkis musste die Schule vorzeitig verlassen, zog zu seinem Vater und wurde Tischler.
Nach Ausbruch des 2. Weltkrieges begann für die armenischen Männer eine schwere Zeit: Während des 48 Monate andauernden „Wehrdienstes“ mussten „Nichtmuslime“ unter unmenschlichen Bedingungen in Arbeitslagern schuften. Doch dies war nicht die einzige Maßnahme der türkischen Regierung gegen die nichtmuslimischen Minderheiten. Mit einer Sondersteuer – „Vermögenssteuer“ genannt – wurden die christliche und jüdische Minderheit finanziell ausgepresst. Wer die Sondersteuer nicht erbringen konnte, musste ins berüchtigte Arbeitslager von „Taskale“.
Nach Ende des „Wehrdienstes“ ging Sarkis 1946 nach Istanbul. Die Stadt war zu jener Zeit noch deutlich geprägt von einer relativ großen griechischen, armenischen und jüdischen Bevölkerung. Für den türkischen Nationalismus war die Existenz einer auch wirtschaftlich bedeutenden Minderheit in der alten Hauptstadt unerträglich. Am 6./7. September 1955 kam es plötzlich zu einem Pogrom gegen die Griechen und Armenier. Es wurde offizielle so dargestellt, als ob die Ausschreitungen spontan erfolgt wären, nachdem es in Saloniki zu einem Anschlag auf das Geburtshaus von Mustafa Kemal Atatürk gekommen war. Später stellte sich aber heraus, dass der türkische Geheimdienst die Bombe gelegt hatte, um einen Vorwand für das Pogrom zu schaffen. Die Behörden hatten dann den „spontanen Wutausbruch der türkischen Bevölkerung“ vorbereitet und gelenkt.
Sarkis Çerkezyans Familie war neu in den Stadtteil Yedikule umgezogen und niemand wusste, dass die neuen Nachbarn Armenier waren. Als das Pogrom begann, reagierten sie schnell: Sie hissten eine türkische Fahne aus dem Fenster, die Mutter setzte sich wie die muslimischen Frauen ein weißes Kopftuch auf und gemeinsam setzten sie sich vor das Haus und tranken – scheinbar unbeeindruckt von dem Grauen um sie herum – Kaffee. Unter den Augen der Sicherheitskräfte wurde hemmungslos geplündert, vergewaltigt und gemordet, wie in alten Zeiten. Ein türkischer Offizier trat an Sarkis heran und sagte, „junger Mann, ich beglückwünsche dich, du hast Tag und Stunde sehr gut gewählt, um einen Kaffee zu genießen“.
Sarkis Çerkezyan wurde nach diesen Erlebnissen zum Kommunisten. Er trat in die TKP ein und blieb sein ganzes Leben lang Kommunist, obwohl er die türkisch-nationale Tendenz in der Partei stets kritisierte . Gut versteckt in seiner Tischlerwerkstatt befand sich eine illegale Druckerei der Partei. Trotz intensiver Suche gelang es der Polizei nie, das Versteck zu finden.
Im Gegensatz zu vielen anderen Armeniern hat Sarkis Çerkezyan über das Verbrechen von 1915 nicht geschwiegen. „Er war ein Kind der Deportation, wurde 1916 in einem Lager geboren. Das hat er nie vergessen. Aber er hat nicht zugelassen, dass es zu einem Trauma wurde“, schreibt sein Verleger und enger Freund Ragip Zarakolu. Sarkis Çerkezyan zählte zu den wenigen Armeniern in der Türkei die sich trauten, über den Völkermord zu sprechen.
Mit Sarkis Çerkezyan ist nicht nur ein wichtiger Zeitzeuge armenischer Geschichte gestorben, sondern einer, der stets aufrecht, mutig und mit inniger Überzeugung für eine bessere Welt gekämpft hat: „Ich denke, dass ich meine Seite im Leben gut gewählt habe. Ich bin Kommunist geworden. Bis zu diesem Alter habe ich für das Gute gearbeitet, dafür, dass Feindschaften beseitigt werden. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass sich nie wieder solche Tragödien ereignen, dass die unnötigen Mauern zwischen den Menschen aufgehoben werden. Ich denke, dass mein Wirken nicht umsonst war. Mein größter Wunsch ist es, dass die Leiden unserer Völker sich nicht wiederholen, dass künftige Generationen niemals ähnliche Zerstörung und Vernichtung erleben“.
Sarkis Çerkezyan, der 1916 in einem der Todeslager in der syrischen Wüste auf die Welt kam, wurde am 5. August in Istanbul auf dem armenischen Balikli Friedhof beigesetzt.
Toros Sarian
05.08.2009