Glendale

Hexenjagt

Richard G. Hovannisian ist Professor an der renommierten University of California in Los Angeles. Als Autor umfangreicher wissenschaftlicher Werke zur Geschichte Armeniens, des Genozids an den Armeniern und vor allem zur Geschichte der Republik Armenien in den Jahren 1918-20, genießt er weltweit einen hervorragenden Ruf. Prof. Hovannisian ist zudem der Gründer der „Society for Armenian Studies“ und Mitglied in mehreren Vorständen wissenschaftlicher Institutionen und Verbänden wie „Facing History an Ourselves Foundation“, „The International Institute on the Holocaust and Genocide“, „Foundation for Research on Armenian Architecture“ und dem “Armenian National Institute“. Ferner ist er Mitglied der Redaktionen der Zeitschriften „Armenian Review“, „Ararat“, „Human Rights Review“, „Journal for the Society for Armenian Studies“ und „Mitk“. Vom Katholikos Karekin I wurde Prof. Hovannisian mit dem St. Mesrop Mashtots Orden ausgezeichnet. Die Liste der Ehrungen und Auszeichnungen für Prof. Hovannisian ist lang: Die Akademie der Wissenschaften Armeniens ernannte ihn 1994 als ersten im Ausland lebenden Armenier zu seinem Mitglied. Von der Staatsuniversität Yerevan erhielt er 1994 den Ehrendoktortitel. Die Staatsuniversität von Artsakh verlieh ihm drei Jahre später ebenfalls einen Ehrendoktortitel. Vom Präsidenten der Republik Artsakh erhielt er 2002 den „Mesrop Mashtots“ Orden. Wer würde glauben, dass der Vater des ehemaligen armenischen Außenministers Raffi Hovannisian nun zur Zielscheibe einer Diffamierungskampagne geworden ist, die sich „Gegen die Fälschung der armenischen Geschichte“ nennt?

Das von Hovannisian 1997 herausgegebene zweibändige Werk „The Armenian People: From Ancient to Modern Times“ beinhaltet Beiträge verschiedener Wissenschaftler zur Geschichte Armeniens und der Armenier. Seitens akademischer Kreise in Armenien wird dieses Werk seit Jahren heftig kritisiert, weil darin zahlreiche – genau 130 – schwerwiegende Fehler enthalten sein sollen. Die Leitung der Fakultät für Armenische Geschichte an der Staatlichen Universität von Yerevan sprach in einer im Dezember 2001 veröffentlichten Stellungnahme von einer „Falschen Armenologischen Schule in den USA“. Hovannisians Buch wurde als „unwissenschaftlich“, „voller Entstellungen“ und als „Anti-Armenisch“ bezeichnet. „Es gibt nur eine armenische Geschichte“, verkündeten die Akademiker in Yerevan. Das Zentrum der Armenologie könne nur im armenischen Heimatland liegen. Sie forderten, dass alle Textbücher für armenische Studien an den Hochschulen in den USA von der Akademie der Wissenschaften Armeniens genehmigt werden müssten.

Im Aufruf zur Unterschriftenkampagne im Internet wird Hovannisian vorgeworfen, sein Werk liege ganz in der Linie der offiziellen türkischen Geschichtsdarstellung. Der Pan-Türkist und Geheimdienstler Esat Uras habe mit seinem berüchtigten Werk „The Armeniens in History and the Armenian Question“ ebenfalls versucht, die armenische Geschichte zu entstellen. Die Initiatoren der Kampagne nennen es „schockierend“, dass Lehrstühle für armenische Studien in den USA dazu dienen, die türkische Version der armenischen Geschichte zu verbreiten: „Heute können sich die Millionen von Armeniern in den USA, die mit alltäglichen Dingen beschäftigt sind, nicht einmal vorstellen, dass die Lehrstühle für armenische Studien dabei sind, die armenische Nationalidentität umzugestalten und eine auf Fälschung beruhende Schule der Armenologie zu fördern, die darauf abzielt, die armenische Geschichte und Kultur nach den Vorstellungen der Türkei zu formen.“ Nach Meinung der Initiatoren der Kampagne „Gegen die Fälschung der armenischen Geschichte“ öffnet das von Hovannisian herausgegebene Werk „einen Riss zwischen der neuen Generation von Armeniern im Heimatland und der Diaspora“.

Kann es sein, dass ausgerechnet ein mit zahlreichen Auszeichnungen geehrter armenischer Professor ein „unwissenschaftliches“ Werk veröffentlicht und „die armenische Geschichte verfälscht“? Ist etwa der Träger des St. Mesrop Mashtots Ordens ein „Anti-Armenier“, der die Armenier „spaltet“? Es ist vielleicht kein reiner Zufall, dass gleichzeitig zu der Kampagne gegen die „Geschichtsverfälschung“ das neu geschaffene Diaspora-Ministerium im Februar diesen Jahres ankündigte, ein Online-Textbuch zur Geschichte Armeniens auf der Website der Armenischen Nationalakademie der Wissenschaften zu veröffentlichen. Nach Auffassung des neuen Ministeriums erhalten die Armenier in der Diaspora „ein Textbuch ohne Entstellungen und Fälschungen“, das kostenlos heruntergeladen werden könne. Ob das Diaspora-Ministerium oder das von Spartak Seyranian (ARF Daschnakzutiun) geleitete Ministerium für Erziehung und Wissenschaft wirklich nur an einer Veröffentlichung interessiert ist, die „ohne Entstellungen und Fälschungen“ über die Geschichte der Armenier aufklärt, ist äußerst fraglich. In den Augen der Regierung –vor allem der Daschnakzutiun – dürfte von den angeblich 130 Fehlern in dem Werk Hovannisians einer ganz besonders schwer wiegen. In der Tageszeitung Azg, wo der Aufruf „Gegen die Fälschung der armenischen Geschichte“ veröffentlicht wurde, erfahren wir, wie der Professor aus Los Angeles die armenische Geschichte „verfälscht“: „R. Hovannisian erklärt, dass sogar nach den Armeniermassakern von 1909 die armenischen Freiheitskämpfer ihre ‚Zusammenarbeit’ mit der türkischen Regierung fortgesetzt und die armenischen Führer das Volk dazu aufgerufen hätten, in die türkische Armee einzutreten, um im Balkan-Krieg tapfer gegen die Griechen, Bulgaren und Serben zu kämpfen.“

Es ist eine historische Tatsache, dass zwischen der Daschnakzutiun und den Jungtürken eine enge Zusammenarbeit stattgefunden hat, um den despotischen Sultan Abdul Hamid zu stürzen. Kurz nach einem Kongress in Paris (1907), an dem verschiedene Oppositionsgruppen gegen die Herrschaft Sultan Abdul Hamids teilnahmen, schrieb Dr. Bahaddin Sakir, das Bündnis mit dem „Todfeind“ – darunter verstand er die Daschnakzutiun – sei nur von taktischer Natur. Die armenischen Politiker wurden im Organ der Jungtürken als „weltfremde Kosmopoliten“ verspottet. Nach der „Jungtürkischen Revolution von 1908“ zeigte sich sehr bald, dass mit der Herrschaft der Jungtürken der türkische Nationalismus einen enormen Auftrieb erhielt. Obwohl er sich immer aggressiver gegen die als „Todfeinde“ der türkischen Herrschaft betrachteten christlichen Völker des Reiches richtete, setzte die ARF Daschnakzutiun ihr Bündnis mit den Jungtürken fort. Alle Anzeichen einer zunehmend pan-türkischen, chauvinistischen Orientierung der Regierung wurden ignoriert. Selbst die Beteiligung von jungtürkischen Truppen an den Massakern in Adana führte nicht dazu, die Gefährlichkeit der extrem nationalistischen Jungtürken zu erkennen und sich auf die abzeichnende Bedrohung vorzubereiten. Auf ihrem Kongress im August 1914 versicherte die Daschnakzutiun der Regierung unter Taalat, Enver und Cemal ihre Loyalität und versprach, dass im Falle eines Krieges die Armenier im Osmanischen Reich ihre „vaterländische Pflicht“ erfüllen würden. Ihre Staatstreue und Loyalität wurde bekanntlich nicht belohnt: Die am 24. April erfolgte Verhaftung der politischen, intellektuellen und religiösen Führer der Armenier im Osmanischen Reich leitete schließlich die systematische Umsetzung der Vernichtungspolitik ein. Die armenischen Männer hatten bei Kriegsausbruch – entsprechend der Zusage auf dem Parteikongress in Erzerum – ihren Wehrdienst in der türkischen Armee angetreten. Nach kurzer Zeit wurden sie entwaffnet und als Lastenträger eingesetzt. Wer nicht an Erschöpfung und Hunger zugrunde ging, wurde schließlich abgeschlachtet. Die jungtürkische Regierung brauchte bei der Durchführung ihrer Vernichtungspolitik keinen nennenswerten Widerstand befürchten.

Vieles deutet darauf hin, dass die Diffamierungskampagne gegen Hovannisian und andere „Geschichtsfälscher“ gut vorbereitet und politisch motiviert ist. Sie zielt darauf ab, eine armenische Geschichtsdarstellung durchzusetzen, die gewissermaßen offiziellen Charakter besitzt und somit als die „wahre Geschichte der Armenier“ gelten soll. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann weitere armenische Geisteswissenschaftler ins Visier der Akademie der Wissenschaften geraten werden, weil sie sich außerhalb des zentral festgelegten „Rahmens“ befinden. Wer wie Hovannisian sich nicht den Vorgaben der Akademie der Wissenschaften fügt läuft Gefahr, als „Geschichtsfälscher“, „Spalter“ oder sogar als „Anti-Armenier“ abgestempelt zu werden.

Die Initiatoren der Diffamierungskampagne gehen sogar so weit, dass sie renommierte armenische Wissenschaftler in eine Reihe mit türkischen Geschichtsfälschern wie Esat Uras stellen. Sein Lügenwerk ist für die offizielle türkische Geschichtswissenschaft die „Mutter aller Bücher“ über die Armenier. In der Türkei wacht das berüchtigte „Institut für türkische Geschichte“ darüber, dass alles schön einheitlich ist – natürlich im Sinne der nationalistischen Staatsideologie. Leider scheint dieses türkische Modell einer staatlich verordneten „offiziellen Geschichtsdarstellung“ einige Armenier zu faszinieren. Aber auch die offizielle türkische Geschichtswissenschaft und Regierung kann von den Armeniern was dazulernen. Das berüchtigte „Institut für türkische Geschichte“ könnte – angeregt durch die armenischen Kollegen – demnächst die Forderung aufstellen, dass alle die „Turkologie“ betreffenden Textbücher an den amerikanischen Hochschulen von ihr genehmigt werden müssten.

Toros Sarian

27.03.2009