Goris

Düstere Perspektiven für die Armenier in der EU

Der am 5. November 2008 veröffentlichte Türkei-Fortschrittsbericht hat innerhalb der armenischen Gemeinschaft in der EU kaum Beachtung gefunden. Es gab auch keinerlei Stellungnahmen seitens armenischer Verbände in Deutschland. Bevor die EU und die Türkei Beitrittsverhandlungen aufnahmen, wurde von armenischer Seite die Forderung erhoben, dass die Türkei nur dann in die EU aufgenommen werden sollte, wenn sie den Völkermord an den Armeniern anerkennt. Um dieser Forderung Nachdruck zu verschaffen, organisierten armenische Verbände mehrmals Demonstrationen in Brüssel. Die Zahl der Teilnehmer nahm jedes Jahr stetig ab.

Haben sich die Armenier inzwischen damit abgefunden, dass das Thema Anerkennung des Völkermords bei den Verhandlungen mit dem Beitrittskandidaten Türkei keine Rolle mehr spielt? Nach dem sensationellen Beschluss des EP im Jahre 1987 sind über 20 Jahre vergangen und anscheinend erinnert sich keiner der jetzigen Parlamentarier in Brüssel an dieses wichtige Dokument, dass gewissermaßen als „die Mutter der Anerkennung durch nationale europäische Parlamente” darstellt. Die Armenier haben es in den vergangenen 20 Jahren leider versäumt, immer wieder darauf hinzuweisen, wie wichtig es ist, dass der EU-Beitrittskandidat dieses dunkle Kapitel seiner Geschichte kritisch aufarbeitet, das Verbrechen an den Armeniern anerkennt und die Rechte der armenischen Minderheit respektiert. Im Kampf um die Anerkennung des Völkermords hat man also bereits 1987 einen überaus wichtigen Sieg errungen und daraus nichts gemacht. Während dieser Zeit hat die Türkei stetig daran gearbeitet, ihr Image zu verbessern. Heute gibt es kaum noch einen Politiker in der EU, der nicht von der wichtigen Bedeutung der Türkei für Europa spricht. Auch wenn in einigen EU-Staaten wie Frankreich oder Österreich die Gegner eines EU-Beitritts der Türkei deutlich überwiegen, gibt es viele, die dagegen keine Einwände haben. Selbst Polen, das den Völkermord anerkannt hat, bekundete kürzlich seine Unterstützung für den EU Beitritt der Türkei. Im Mittelpunkt der türkischen Außenpolitik hinsichtlich der EU steht eine rege Propagandatätigkeit bzw. Lobbyarbeit. Es geht Ankara nicht darum, die von der EU vorgegebenen politischen Kriterien zu erfüllen, sondern die strategische Bedeutung der Türkei für die EU in den Vordergrund zu stellen. Gelingt es Ankara, diese seit Jahren intensiv betriebene Lobbyarbeit erfolgreich fortzusetzen, werden die europäischen Politiker die noch vorhandenen Bedenken zurückstellen.

In den kommenden Jahren und Jahrzehnten wird die Politik sich immer mehr auf die Kontrolle der Erdölquellen und der Transportrouten konzentrieren. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialistischen Systems war die Auffassung verbreitet, dass die Bedeutung der Türkei für den Westen abnehmen würde. Doch diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Trotz vieler Probleme, die die Türkei hat, kann man aber nicht einfach übersehen, dass sie in den vergangenen Jahren ihre Position in der Region und auch in der internationalen Politik ausbauen konnte. Sie hat durch eine geschickte Außenpolitik und den Einsatz von 50 Mio. für ihre Lobbyarbeit heute einen Sitz im wichtigen UN-Sicherheitsrat. Auch wenn es nur für zwei Jahre ist, so hat die türkische Regierung in dieser Zeit eine gute in der internationalen Politik, ihre Stimme zählt. Dank der Einladung aus Yerevan ist der Ruf des türkischen Präsidenten Abdullah Gül und auch der AKP Regierung gestiegen. Vor dem georgisch-russischen Krieg war keine Rede von einer Vermittlerrolle Ankaras im Konflikt um Berg-Karabach. Heute sieht es so aus, als ob Yerevan keine Einwände hat, dass Ankara eine solche Rolle spielt. Mit einer Reihe von außenpolitischen Initiativen und einer deutlichen Verbesserung der politischen Beziehungen zu Moskau hat sich die Türkei plötzlich als „ehrlicher Makler” ins Spiel gebracht. Sie spielt diese Rolle seit einiger Zeit in den Beziehungen zwischen Israel und Syrien und inzwischen bietet sich auch als Vermittler zwischen dem Iran und den USA an. Im Brennpunkt der Krisenregionen Süd-Kaukaus und Naher Osten erscheint die Türkei wie ein stabiler, westlich orientierter, moderner und liberaler islamischer Staat. Einen solchen „geostrategisch” bedeutenden Staat in der EU zu haben, erscheint immer mehr EU-Politkern als wichtig.

Es sieht so aus, als ob die armenische Gemeinschaft in der EU diese Entwicklung in den vergangenen Jahren mehr oder weniger als Zuschauer am Rande mitverfolgt hat. Es gab und gibt noch Diskussionen über die Aussichten eines EU-Beitritts der Türkei. Vermutlich sind die meisten Armenier in der EU dagegen. Die Position der armenischen Regierung hat Außenminister Nalbandian kürzlich bei seinem Besuch in Istanbul wiederholt: Armenien unterstützt den EU-Beitritt der Türkei. Die Frage ist aber weniger, ob Armenien und die Diaspora-Armenier einen EU-Beitritt der Türkei unterstützen oder ablehnen sollten, sondern was getan werden sollte, um den Interessen und Forderungen der Armenier Gehör zu verschaffen. Sehr viel Energie wurde darauf verwendet, die Anerkennung des Völkermordes durch einzelne europäische Länder zu erreichen, was sicher wichtig ist. Wenn wir uns aber ansehen was die Resolution des EP vom Juni 1987 oder was der Bundestagsbeschluss vom Juni 2005 gebracht hat, dann ist es doch eher ernüchternd.

Die türkischen Medien und die Regierung in Ankara malen gern die Gefahr einer mächtigen „armenischen Lobby” an die Wand, um anti-armenische Stimmung in der türkischen Bevölkerung zu schüren. Die Türkei redet von „armenischer Lobby” und nicht nur die eigene Bevölkerung glaubt daran, sondern auch die Armenier. Wenn wir uns wirklich nüchtern anschauen, was als „armenische Lobby” bezeichnet wird, dann werden wir zu einem erschreckenden Ergebnis kommen: Die „armenische Lobby” ist mehr oder weniger nur das, was im Jahre 2000 von der Armenischen „Revolutionären” Föderation in Brüssel aufgebaut wurde. Was zuerst als „Armenisches Nationalkomitee in Europa” ins Leben gerufen wurde, erhielt später den Namen „Europäische Armenische Föderation für Gerechtigkeit und Demokratie”.

Die von einigen reichen armenischen Sponsoren mit 1 Mio. Dollar Startkapital ausgestattete „EAJD” ist also das, was seitdem auf EU-Ebene als armenische Interessenvertretung bzw. Lobbyorganisation tätig ist – zumindest behauptet sie es von sich. Die Namen der 100 großzügigen Spender, die sich in Genf getroffen hatten, gab die Föderation per E-Mail bekannt. In Ankara erfuhr man also alles über das Treffen in der Schweiz. Unabhängig davon, wer die „Lobbyarbeit” betreibt oder finanziert, stellt sich die Frage, was mit Geld, die seitdem in Brüssel ausgegeben wurden, erreicht wurde. Das Ergebnis ist sehr mager: In den Beschlüssen des EP und der Kommission sucht man heute vergeblich das Wort Völkermord, die Blockade Armeniens dauert an, die Rechte der Minderheiten in der Türkei werden weiterhin massiv verletzt. Kürzlich beklagten sich die Vertreter von Berg-Karabach, die durch Europa reisten und auf Veranstaltungen auftraten darüber, dass die europäischen Politiker – die Öffentlichkeit sicher ebenfalls – kaum etwas über den Konflikt wissen. Auch dies ist ein Versäumnis der „armenischen Lobby”, denn die Vorgabe lautete, dass über die Karabach-Frage am besten geschwiegen wird, in der Hoffnung, sie würde dadurch auf wundersame Weise verschwinden und die Republik Berg-Karabach zumindest de facto anerkannt. .

Die armenischen Verbände in der EU müssen sich heute ernsthaft die Frage stellen, ob sie wirklich gute Arbeit geleistet haben, um im Interesse der Armenier in der EU und auch der Republik Armenien und Berg-Karabachs aktiv zu werden. Die Betreiber der „Föderation” stellen sich eine solche Frage vermutlich nicht, denn sonst hätten sie längst eine selbstkritische Bilanz ihrer Tätigkeit gezogen. Solange das Geld fließt, ist die „EAFJD” in der Lage „Erfolge” zu präsentieren. Diese dürften die Regierung in Ankara aber kaum beeindrucken. Sie hat weder ihre Politik gegenüber den Armeniern im eigenen Land, noch die gegenüber der Republik Armenien grundlegend geändert. Inzwischen nehmen weder die Politiker in Brüssel noch die Regierung in Ankara die „armenische Lobby” ernst. Es ist offensichtlich, dass es hinter dieser „Lobby” keine wirkliche Kraft gibt, die Druck erzeugen könnte. Es gibt nicht einen einzigen armenischen Abgeordneten in Brüssel und Patrick Devedjian ist der einzige vorzeigbare armenische Politiker in Frankreich. In den Parlamenten vieler EU-Länder und in wichtigen Parteigremien nimmt die Zahl türkischstämmiger Abgeordnete dagegen ständig zu. Auch die kurdische Gemeinschaft hat inzwischen eine beachtliche Zahl von Abgeordneten in verschiedenen Parlamenten.

Nichts ist Ankara lieber als eine „armenische Lobby”, die ohnmächtig, unkoordiniert und ohne wirklichen Einfluss agiert. Eine wirkliche Gefahr würde erst dann entstehen, wenn die Armenier in der EU beginnen würden, sich auf breiter, demokratischer Basis zu organisieren, um – ohne Bevormundung durch eine einzige Partei – aktiv und offensiv für ihre Interessen einzutreten. Aber dies liegt nicht im Interesse der „Föderation”, die das politische Leben innerhalb der armenischen Gemeinschaft unter ihrer eigenen Kontrolle behalten will. Wenn sich keine neue politische Kraft formiert, die in der Lage ist, die armenische Gemeinschaft aus der Sackgasse hinauszuführen, in die sie von der „Föderation” gebracht wurde, dann wird sich der seit Jahren deutlich abzeichnende Trend in die politische Bedeutungslosigkeit fortsetzen. Solange nicht die Armenier organisiert, entschlossen und beständig dafür kämpfen, dass den Beschlüssen und Erklärungen europäischer Parlamente Taten folgen, bleiben diese Dokumente wertloses Papier. Außerhalb Frankreichs werden in demokratischen Parteien aktive Armenier immer mehr auf den Widerstand türkisch-nationalistischer Kräfte stoßen und kaum Chancen haben, sich durchzusetzen. Es wäre fatal, diese für die armenische Gemeinschaft in der EU insgesamt ungünstige Entwicklung zu ignorieren oder zu verharmlosen.

Toros Sarian

27.11.2008