Kenan Kolat, der Vorsitzende der „Türkischen Gemeinde in Deutschland“, hat sich längst als ein würdiger Nachfolger Hakki Keskins erwiesen. Um das „Sommerloch“ kurz vor den bevorstehenden Bundestagswahlen etwas zu füllen, hat er einen Brief an die Bundeskanzlerin geschrieben und sie darauf hingewiesen, dass der Ausbau des Lepsius-Hauses in Potsdam „die Völkerverständigung zwischen Armeniern und Türken erschweren“ werde. „Die Türken in Deutschland sind traurig und entrüstet bei der Vorstellung, dass die Bundesregierung eine solche Gedenkstätte fördert“, behauptet Kolat. Vier Jahre nach dem Bundestagsbeschluss in „Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915“, die auch die Unterschrift der damaligen Fraktionsvorsitzenden Angela Merkel trägt, hat der TGD-Chef erneut deutlich gemacht, dass sich sein Verband an den Völkermord im Osmanischen Reich weder erinnern noch gedenken will.
Aber nicht nur das Lepsius-Haus ist ein Dorn im Auge der türkischen Genozidleugner in Deutschland: Sie stört es auch, dass türkische Schüler in Brandenburg vom Völkermord der Armenier im Osmanischen Reich erfahren. Dadurch würde ein „psychologischer Druck“ auf die türkischstämmigen Schüler erzeugt, der angeblich nicht nur ihre schulische Leistung, sondern auch den „inneren Frieden“ im Land gefährden würde. Ministerpräsident Matthias Platzeck wird sich vermutlich noch sehr gut an die Ereignisse im Januar 2005 erinnern: Nach einer Intervention der türkischen Botschaft hatte er den Verweis auf den Genozid an den Armeniern aus dem Lehrplan streichen lassen. Als dieses Einknicken vor der türkischen „Diplomatie“ bekannt wurde, sah sich die Landesregierung unerwartet heftiger Kritik ausgesetzt und musste die Streichung wieder Rückgängig machen. In der Handreichung zum Thema „Völkermord und staatliche Gewaltverbrechen im zwanzigsten Jahrhundert“, das den Geschichtslehrern zur Verfügung steht, wird der Völkermord an den Armeniern wieder erwähnt.
Ob die Konfrontation mit der historischen Wahrheit die Leistung der türkischstämmigen Schüler beeinträchtigt hat, ist noch nicht untersucht worden. Aber dank der Aktion des TGD-Chefs wurde den deutschen Politikern und der Öffentlichkeit erneut vor Augen geführt, dass die „Vertreter“ der Türken in Deutschland die historische Tatsache des Völkermords an den Armeniern genauso wenig anerkennen wollen, wie die Regierung in Ankara. Barbara John, die Vorsitzende des Beirats der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und ehemalige Ausländerbeauftragte des Berliner Senats kritisierte in einem Kommentar im Tagesspiegel die Haltung der TGD mit deutlichen Worten: „Es ist ungut, dass die Türkische Gemeinde sich so unverhohlen zum Lautsprecher türkischer Regierungsstellen macht. Das passiert zwar nicht zum ersten Mal, aber diesmal geht es um einen Grundsatz, der in Deutschland nicht Spielball sein darf für platte Interessenpolitik. Die eigene Geschichte hat uns gelehrt, politische Verbrechen, auch wenn sie zwei oder mehr Generationen zurückliegen, im kollektiven Gedächtnis zu speichern, unlöschbar.“ (Der Tagesspiegel, 23.08.2009)
Den Funktionären der TGD, in deren Köpfen offenbar nur das abgespeichert ist, was Ankara als offizielle türkisch-nationale Geschichtsdarstellung zum Abspeichern genehmigt hat, gebührt trotzdem Anerkennung: Mit ihrer „unguten“ Forderung, den Ausbau des Lepsius-Hauses zu stoppen und den Völkermord an den Armenier aus dem Geschichtsunterricht an den Schulen Brandenburgs zu streichen, haben sie den Unmut auf deutscher Seite erregt. Karen Krüger schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Kolats Intervention ist, so gesehen, auch der diskriminierende Versuch, türkische Schüler zu entmündigen. Das mag den Verhältnissen in der Türkei entsprechen – am 14. April 2003 hat das türkische Erziehungsministerium alle Schuldirektoren verpflichtet, die gesamte Schülerschaft auf striktes Verneinen irgendeines Armenier-Völkermords durch die Türkei einzuschwören. Der deutschen Schulmaxime, Jugendliche zu frei denkenden Bürgern zu erziehen, entspricht das jedoch nicht.“ (FAZ, 07.08.2009)
Bemerkenswert ist allerdings der am 11. August in der BZ veröffentlichte Artikel von Gunnar Schupelius: „Wenn die türkischen Funktionäre schon der Meinung sind, sie müssten den Massenmord an den Armeniern umbenennen, dann solllte sie wenigstens davon absehen, eine Gedenkstätte für den deutschen Humanisten Lepsius anzugreifen.“ Und tatsächlich stellt sich die Frage, ob die Gedenkstätte in Potsdam dem deutschen Pfarrer und Missionar Johannes Lepsius gewidmet ist oder den Opfern des Völkermords in der Türkei. Ferda Atamans Artikel im Tagesspiegel (10.08.2009) ist betitelt mit „Türken gegen Ausbau des Lepsius-Gedenkhauses“. „Zündstoff für Streitigkeiten“, so die Autorin, sei der „Ausbau der Gedenkstätte für den Orientalisten Johannes Lepsius“. Es ist doch auffallend, dass stets die Rede von einem Lepsius-Gedenkhaus ist und nicht von einer Gedenkstätte für die Opfer des Völkermords an den Armeniern. Ob wohl jemand auf die Idee kommen würde, ein Gedenkhaus für Oskar Schindler zu errichten, um dort der Opfer des Holocausts zu gedenken?
Wie sehr es den deutschen Armenierfreunden vor allem um Lepsius geht, wird schon im 2. Absatz der Bundestagsresolution deutlich: „Besonders das Werk von Dr. Johannes Lepsius, der energisch und wirksam für das Überleben des armenischen Volkes gekämpft hat, soll dem Vergessen entrissen und im Sinne der Verbesserungen der Beziehungen zwischen dem armenischen, dem deutschen und dem türkischen Volk gepflegt und erhalten werden.“ Mit dem Bundestagsbeschluss vom Juni 2005, der zumindest in dieser Passage deutlich die Handschrift des Lepsius-Experten Prof. Hermann Goltz trägt, wurde Johannes Lepsius, tatsächlich dem „Vergessen entrissen“. Zugleich wurde die Grundlage für den Ausbau des Lepsius-Hauses als „eine Forschungs- und Begegnungsstätte für internationale wissenschaftliche und ökumenische Zusammenarbeit“ (Berliner Morgenpost 21.11.2007) geschaffen.
Wir Armenier in Deutschland sind wirklich bescheiden: Wir begnügen uns damit, dass Deutschland, der Verbündete der Türkei, der „nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stoppen“, eine Gedenkstätte für Lepsius, aber nicht für die ermordeten Armenier finanziert. Wir sind dankbar, froh und glücklich, wenn wir – auf eigene Kosten natürlich! – drei Khachkars (Kreuzsteine) in Deutschland aufstellen dürfen, die an unsere Opfer erinnern sollen. Wir stellen uns nicht die Frage, warum Deutschland, das beim Völkermord eine „unrühmliche Rolle“ (Bundestag) gespielt hat, keine angemessene Gedenkstätte errichtet, um an den Völkermord zu erinnern. Die Linksfraktion im Bundestag hatte im Juli 2008 in einer kleinen Anfrage Auskunft darüber verlangt, welche Mittel außer der Förderung des Lepsius-Hauses für die Aufarbeitung des Völkermordes an den Armeniern vorgesehen seien. Statt sich über diese und andere berechtigte Fragen der Linksfraktion Gedanken zu machen, wurde seitens des Zentralrats der Armenier in Deutschland heftige Kritik an der kleinen Anfrage im Bundestag geübt.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Dass die Armenier sich immer in Dankbarkeit an Johannes Lepsius erinnern und ihn ehren werden, ist eine Selbstverständlichkeit. Sein großer Einsatz für die verfolgten Armenier, die Bedeutng seiner umfangreichen Dokumentation des türkischen Verbrechens kann und darf nicht bestritten werden. Natürlich sollte mit dem Ausbau des Lepsius-Hauses an das Werk von Johannes Lepsius erinnert werden. Aber unabhängig davon ist in Deutschland – möglichst in Berlin – eine Gedenkstätte, sowie ein Dokumentations- und Forschungszentrum zum Völkermord an den Armeniern erforderlich. Das vorrangige Ziel der Armenier muss also eine Gedenkstätte sein, in dessen Zentrum ganz klar der Völkermord in der Türkei steht. An einem solchen Ort würde Johannes Lepsius natürlich den ihm gebührenden Platz erhalten.
Wir können uns auch nicht damit zufrieden geben, dass – vier Jahre nach dem Bundestagsbeschluss – einzig in Brandenburg der Völkermord an den Armeniern im Geschichts-Lehrplan angeboten wird. Warum unternehmen die armenischen Verbände in den anderen – vor allem westlichen – Bundesländern nichts, damit diese dem Beispiel Brandenburgs folgen? Es ist eine beschämende Realität, dass die Verantwortlichen in den armenischen Verbänden nichts unternommen haben, um nach dem Bundestagsbeschluss mit vereinten Kräften für diese Forderungen aufzustellen und die eigene Gemeinschaft dafür zu mobilisieren. Wenn die armenische Gemeinschaft nicht darauf drängt, dass endlich gehandelt wird, dann wird sich nichts ändern.
Toros Sarian
24.08.2009