Seit dem Völkermord an den Armeniern sind über 90 Jahre vergangen und in dieser Zeit wurde die Menschheit leider immer wieder Zeuge von solchen Verbrechen. Auch im 21. Jahrhundert stehen in verschiedenen Teilen der Welt Völker am Rande der totalen Ausrottung oder werden gewaltsam aus ihrer ursprünglichen Heimat vertrieben. Dem Völkermord in Ruanda folgte der Völkermord im Sudan. Inzwischen spielt sich auch im Irak eine Tragödie, über die leider nur sehr wenig berichtet wird: In Mesopotamien, eine der Wiegen der Zivilisation, sind die Reste der dort noch lebenden christlichen Völker und die Religionsgemeinschaft der Yezidi einem wachsenden Terror ausgesetzt. All dies geschieht unter den Augen der USA und ihrer Verbündeten, die dort einmarschiert sind, um Demokratie und Menschenrechte durchzusetzen.Um gegen diese schleichende Vernichtung der christlichen Minderheiten im Irak zu protestieren, rief die „European Syriac Union“ am 19. April zu einer Kundgebung in Brüssel. In der Pressemitteilung der ESU wird auf die Gefahr eines neuen Völkermordes hingewiesen: „Das Volk der Suryoye-Chaldäer-Assyrer ist eine Zielscheibe des Terrors und der ethnischen Säuberung geworden. Um diese zu beschleunigen werden gezielt die Kirchen bombardiert und die kirchlichen Vertreter ins Visier genommen. Die Anzahl der christlichen Bevölkerung hat sich in den letzten drei Jahren in Basra, Kirkuk, Bagdad und Mosul halbiert. Andere Regionen im Irak wurden vollständig entchristianisiert. Das Volk der Suryoye-Chaldäer-Assyrer wird heute einem neuen Völkermord ausgesetzt. Ohne effektive Schutzmassnahmen wird das indigene Volk der Region aus der mesopotamischen Geografie ausradiert.“
Können wir gleichgültig und tatenlos zusehen, wie die Minderheiten im Irak – Armenier, Aramäer, Assyrer, Chaldäer und Eziden – terrorisiert und zur Flucht gezwungen werden? Mögen die wenigen Armenier, die dort noch leben, Aufnahme in der Republik Armenien finden, wohin aber sollen die Angehörigen der anderen christlichen Minderheiten und die Eziden, die schon immer in Mesopotamien beheimatet waren, gehen? Für sie bleibt nur die Flucht in fremde Länder, bestenfalls nach Westeuropa oder in die USA. Es ist ein Weg, den nach dem Völkermord im Osmanischen Reich auch viele Armenier gehen mussten. Einst wurde das jüdische Volk in die Diaspora getrieben, wo sie Diskriminierung, Verfolgung und schließlich den Holocaust erleben musste. Seit über 100 Jahren sind es nun die christlichen Völker Kleinasiens und des Nahen Ostens, die gezwungen sind, den Weg in die Diaspora zu gehen. In Mesopotamien werden vielleicht schon in wenigen Jahren die letzten christlichen Minderheiten verschwunden sein. Und dieser blutige Prozess spielt sich vor den Augen mächtiger christlicher Nationen ab, die vorgeben, die Welt von Diktatur, Unterdrückung, Gewalt und Willkür zu befreien.
Was sich auf dem Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches abgespielt hat bzw. heute noch abspielt, ist eines der großen Tragödien der Menschheitsgeschichte. Die Christen des Ostens haben immer schon einen hohen Preis für die Politik ihrer europäischen und amerikanischen „Glaubensbrüder“ bezahlen müssen. Sie waren und sind diejenigen, die für die Verbrechen ihrer europäischen Glaubensbrüder an den einheimischen Völkern Amerikas, Afrikas und Asiens, büßen. Sie wurden zu mittellosen Flüchtlingen, verstreut in alle Himmelsrichtungen, angewiesen auf die Gnade und Hilfe der Europäer und Amerikaner, die nicht ganz unschuldig sind an der Lage, in die sie geraten sind. Selbst die Kreuzzüge hatten nicht eine solche dramatische Auswirkung auf das Leben der Christen Kleinasiens und des Nahen Ostens, wie die Politik der Europäer und Amerikaner seit dem 19. Jahrhundert.
Europa und die USA haben sich schon immer als unwillig und unfähig erwiesen, die Christen im Orient zu beschützen. Die historische Dimension der Vernichtung und Vertreibung der christlichen Völker Kleinasiens und des Nahen Ostens ist den Europäern und Amerikanern entweder nicht bewusst oder es ihnen einfach gleichgültig, was sich dort abspielt. Vielleicht hängt diese Gleichgültigkeit und Tatenlosigkeit auch damit zusammen, dass die dortigen Christen nie bereit waren, die Eigenständigkeit ihrer Kirche aufzugeben und Katholik oder Protestant zu werden.
Wenn wir heute der Opfer des Völkermordes im Osmanischen Reich gedenken, darf es uns also nicht nur darum gehen, an die Opfer des Völkermordes an den Armeniern zu erinnern. Der 24. April, der Tag im Jahre 1915, der den Beginn der systematischen Deportation und Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich markiert, sollte zu einem Gedenktag werden, an dem wir Armenier die Weltöffentlichkeit daran erinnern, dass die Forderung nach Verhütung von Völkermorden eine politisch höchst aktuelle und wichtige Angelegenheit ist, die ernst genommen werden muss. Als Nachkommen der Überlebenden haben wir eine besondere Verpflichtung, dafür einzutreten, dass anderen Völkern das erspart bleibt, was unserem Volk während des 1. Weltkrieges erlitten hat.
Der 24. April ist nicht nur ein Tag der Trauer, sondern auch ein Tag der Erinnerung, der Mahnung und der Warnung. Es ist für uns Armenier heute mehr denn je ein Tag, an dem wir die demokratische Weltöffentlichkeit und die internationale Staatengemeinschaft daran erinnern müssen, dass die Verbrechen des 20. Jahrhunderts sich im 21. Jahrhundert nicht wiederholen dürfen, dass die am 9. Dezember 1948 verkündete Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes nicht in Vergessenheit geraten darf. Wenn wir weiter untätig zusehen, wie die Aramäer, Assyer, Chaldäer und Yezidi in Mesopotamien langsam vernichtet und vertrieben werden, machen wir uns mitschuldig an einem neuen Menschheitsverbrechen. Wenn der Westen die Türkei und Aserbaidschan aufrüstet und politisch hofiert, macht sie sich mitschuldig, falls es zu einem Krieg in der Region kommen sollte. Wenn Türkei nicht endlich dazu bewegt werden kann, die national-kulturellen Rechte der Kurden zu respektieren und die Menschen- und Minderheitenrechte konsequent einzuhalten, macht sich die EU mitschuldig an der Fortsetzung der verbrecherischen Politik, die verantwortlich ist für die Ermordung Hrant Dinks, der drei Christen in Malatya und von Zehntausenden von Kurden, die in dem seit Jahren andauernden Krieg getötet wurden. Der 24. April ist der Tag, an dem wir, die Nachkommen der Überlebenden eines Völkermordes, unsere Stimme erheben und die Weltöffentlichkeit daran erinnern, dass die Türkei den Völkermord endlich anerkennen und die internationale Staatengemeinschaft neue Völkermorde verhindern muss. Um unserer menschlichen und politischen Verpflichtung gegenüber den Opfern der Verbrechen der Vergangenheit und den Opfern der Verbrechen der Gegenwart gerecht zu werden, müssen wir mehr tun, als am 24. April nur wohlklingende Sonntagsreden zu halten oder zu hören.
Toros Sarian
23.04.2008