Cascade Yerevan

Armenien und die „Geostrategischen Interessen“ der USA und Großbritanniens

Am 24. April werden die Armenier der Opfer des Völkermordes gedenken und die Weltöffentlichkeit wieder daran erinnern, dass die heutige Republik Türkei, die Nachfolgerin des Osmanischen Reiches, dieses Verbrechen bis heute leugnet. Wenn in Parlamenten irgendwo auf der Welt der Massenmord an den Armeniern auf die Tagesordnung kommt – wie kürzlich in Israel – versucht die Regierung in Ankara mit allerlei Drohungen, eine Verurteilung des Verbrechens zu verhindern. Trotzdem haben in den vergangenen 20 Jahren zahlreiche Staaten den Völkermord an den Armeniern anerkannt. Großbritannien und die USA sind allerdings bis heute nicht bereit, dem Beispiel dieser Länder zu folgen.

Dabei hatten sie während bzw. nach Ende des 1. Weltkrieges die Vernichtungspolitik des jungtürkischen Regimes angeprangert. Im Mai 1915, nachdem die ersten Berichte über die Deportationen und Massaker nach Europa gelangt waren, hatte die britische Regierung gemeinsam mit ihren Verbündeten in einer Erklärung eine deutliche Warnung an die türkischen Regierung ausgesprochen: „Angesichts dieser Verbrechen der Türkei gegen die Menschheit und die Zivilisation erklären die Regierungen der Alliierten öffentlich gegenüber der Hohen Pforte, dass sie alle Mitglieder der osmanischen Regierung persönlich für dieses Verbrechen zur Verantwortung ziehen werden, und ebenso jene ihrer Beauftragten, die in solche Massaker verwickelt sind.“

Die mit Deutschland verbündete jungtürkische Regierung des Osmanischen Reiches ließ sich dadurch nicht beeindrucken und setzte ihren Vernichtungsplan unbeirrt fort. Nach dem 1. Weltkrieg, als die Aufteilung des Osmanischen Reiches auf die Tagesordnung kam, stellten die Alliierten den Resten des armenischen Volkes einen eigenen Staat in Aussicht, der weite Teile Armeniens umfassen sollte. US-Präsident Wilson zeichnete die Grenzen Armeniens, so wie es den Vorstellungen der Armenier entsprach, er war aber nicht Bereit, amerikanische Truppen nach Kleinasien zu entsenden, um die Bestimmungen des Vertrages von Sevres zu erzwingen. Weder Großbritannien, noch die USA haben in jenen Jahren etwas getan, um die für das Verbrechen Verantwortlichen zu bestrafen und die Unabhängigkeit der im Mai 1918 gegründeten Republik Armenien zu schützen. Diese zwei Staaten, die damals so viel versprochen und so viele Hoffnungen beim armenischen Volk geweckt hatten, weigern sich bis heute, den Völkermord anzuerkennen. Stattdessen unterhalten sie enge politisch-militärische Beziehung zum türkischen Staat, den sie als ihren strategischen Verbündeten in der Region und innerhalb der islamischen Welt betrachten.

Für die Alliierten war die Republik Armenien nicht Wert, sie gegen die türkisch-nationale Bewegung unter Kemal Mustafa Pascha oder die Bolschewiki, die bereits im April 1920 die Macht im benachbarten Aserbaidschan übernommen hatten, zu verteidigen. Sie sahen tatenlos zu, wie die Truppen der kemalistischen Nationalbewegung die isolierte Republik, dass die Armenier auf einen kleinen Teil ihrer historischen Heimat errichtet hatten, mit Leichtigkeit überrannten und ihr den Vertrag von Alexandropol aufzwangen. Der im August 1920 in Sevres abgeschlossene Vertrag, der den Armeniern so viel in Aussicht gestellt hatte, war im Dezember bereits Makulatur. Großbritannien, Frankreich und die USA sahen die türkische Nationalbewegung als die einzige Kraft an, die den Vormarsch der Bolschewiki nach Kleinasien und den Nahen Osten aufhalten konnte. Es ist eines der schändlichsten Kapitel in der Geschichte dieser Länder, dass sie das armenische Volk, das unter türkischer Herrschaft so viel gelitten und Opfer eines Völkermordes geworden war, einfach ihren eigenen Interessen opferten.

Die armenische Gemeinschaft in den USA konnte durch ihren hartnäckigen Einsatz die Forderung nach Anerkennung des Völkermordes auf die Tagesordnung des US-Kongresses bringen. Es ist ein nicht unbedeutender Erfolg der armenischen Verbände in den USA, dass zumindest ein Ausschuss des US-Kongresses in einer Resolution den Völkermord anerkannt hat. Zu einer Abstimmung im Plenum des US-Kongresses ist es schließlich nicht gekommen, weil das Weiße Haus und die Türkei-Lobby alles aufgeboten haben, um dies zu verhindern. London hingegen schweigt weiter zu dieser Frage. Für britische Ölmultis gehören zu den ersten die das neue Öldorado in Aserbaidschan entdeckt haben. Sie und die britischen Politiker betrachten die Armenier eher als lästige Störenfriede im südlichen Kaukasus, eine Bedrohung der Sicherheit der Baku-Ceyhan Pipeline, die unweit der Grenzen der Republik Berg-Karabach über Georgien in die Türkei führt. Bereits nach Ende des 1. Weltkrieges hatten die Briten sich auf die Seite der Regierung in Baku geschlagen, als es um die Frage der Kontrolle über das armenische Berg-Karabach ging. Die Erdölfelder vor Baku zählten damals zu den bedeutendsten der Welt, was für die Regierung in London bereits damals ausschlaggebend dafür war, die aserbaidschanische Regierung zu unterstützen. Es war britischer Druck, der dazu führte, dass die Regierung in Yerevan den legendären Partisanenführer Antranik Ozanyan davon abhielt, mit seiner Einheit den bedrängten Armeniern in Berg-Karabach zu Hilfe zu eilen. Im Sommer 1919 besetzten aserbaidschanische Truppen das Gebiet und es kam zu den üblichen Massakern und Plünderungen. Was die bürgerlich-nationalistische Regierung dank der Hilfe der Briten zugesprochen bekam, durfte die spätere bolschewistische Regierung mit Unterstützung Stalins behalten.

Heute zählt Großbritannien, der Juniorpartner der USA im Nahen Osten, innerhalb der EU zu den Befürwortern eines EU Beitritts der Türkei, während Deutschland und Frankreich dies ablehnen. Es wäre keine Überraschung, wenn London und Washington eines Tages auch den NATO Beitritt Aserbaidschans unterstützen würden. Die mittel- und langfristigen Szenarien in der Region laufen mehr oder weniger darauf hinaus, dass die USA und Großbritannien bei der Durchsetzung ihrer „geopolitischen Interessen“ weiterhin auf die türkische Karte setzen werden. In den zwei benachbarten Konfliktregionen Süd-Kaukasus und Naher Osten geht es um die Kontrolle über das Öl und die Transportwege. Die Türkei und ihr kleiner Bruder Aserbaidschan sind und bleiben auch in absehbarer Zukunft die verlässlichsten Partner der USA und Großbritanniens in der Region. Dies versetzt die Türkei und Aserbaidschan in eine günstige Verhandlungsposition bei der Durchsetzung ihrer Interessen, gerade gegenüber den Armeniern.

Angesichts der sich ständig verändernden weltpolitischen Lage werden wir am 24. April nicht nur unserer Opfer gedenken und die Forderung nach Anerkennung des Völkermordes durch die Türkei bekräftigen, sondern auch sorgenvoll in die Zukunft blicken müssen. Sorgenvoll deshalb, weil diese Veränderungen die Lage der Republik Armenien und Berg-Karabach schwächen, sowohl politisch, als auch militärisch und wirtschaftlich. Wir sehen, wie manche Staaten, die in der Vergangenheit das armenische Volk verraten und betrogen haben, heute eine Politik verfolgen, die für die Armenier nichts gutes erwarten lässt. Solange die USA und Großbritannien keine Bereitschaft zeigen, durch eine Anerkennung des Völkermordes ihrer moralischen Verpflichtung nachzukommen, ist zu befürchten, dass sie im Falle einer erneuten Aggression gegen Berg-Karabach und Armenien nichts zum Schutze der Armenier unternehmen werden. Berichte, dass die Regierung in Baku mit den Einnahmen aus dem Erdölgeschäft massiv aufrüstet und die Kriegsrhetorik der aserbaidschanischen Politiker lassen befürchten, dass eines Tages tatsächlich erneut ein Krieg ausbricht.

Das Bedrückende am 93. Jahrestag des Völkermordes ist deshalb nicht nur die Tatsache, dass die Türkei weiterhin den Völkermord leugnet und kritische Stimmen im eigenen Land unterdrückt, sondern auch, dass sie im Westen gute Verbündete hat, die unter Hinweis auf ihre übergeordneten „geostrategischen Interessen“ diesen türkischen Staat unterstützen. Das Bedrückende ist, dass die Vergangenheit die Gegenwart der Diaspora-Armenier bestimmt und die Armenier in der Republik Armenien und Berg-Karabach, die am 24. April der Opfer des Völkermords gedenken werden, in einem bedrohlichen Belagerungszustand leben, während sich der Westen unter dem Deckmantel der „Neutralität“ seiner historischen Verantwortung entzieht.

Toros Sarian

18.04.2008