Am 100. Jahrestag des Völkermords an den Armenier_innen wird auch in Deutschland wieder über dieses Verbrechen diskutiert. Im Bundestag wird am 24. April eine Debatte stattfinden; vorgesehen ist dafür eine Stunde; mehr soll den Abgeordneten an einem Freitagnachmittag nicht zugemutet werden. Vor zehn Jahren bedauerte der Bundestag in einem Beschluss „die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung der Armenier nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stoppen“; er vermied es aber, das Verbrechen als Völkermord zu bewerten, vermutlich aus Rücksicht auf die verbündete Türkei und die nationalen Empfindlichkeiten der türkischstämmigen Migranten_innen.
Auch im aktuellen Antrag der Regierungskoalition wird die Bezeichnung des Verbrechens al Völkermord wieder vermieden. Nur am Ende wird – wie bereits im Beschluss von 2005 – darauf verwiesen, dass „zahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Organisationen die Verbreibung und Vernichtung der Armenier als Völkermord“ werten. Offensichtlich lässt sich die Bundesregierung auch nicht vom Europäischen Parlament beeindrucken, das am 12. März 2015 alle Mitgliedsstaaten dazu aufrief „mehr zur Anerkennung des armenischen Völkermords beizutragen.“ Der SPD-Politiker Dietmar Nietan beklagte sich darüber, „dass es anscheinend an entscheidender Stelle an Mut fehlt, einmal auszusprechen, was wirklich geschehen ist“. Nietan, Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, hätte allerdings auch selber mutiger sein und einen „an entscheidender Stelle“ sitzenden Parteigenossen namentlich nennen können: Außenminister Steinmeier.
Unmut über die Haltung der Bundesregierung herrscht auch in den konservativen Medien: „Bundesregierung kuscht vor Erdogen“, lautete der Titel eines Artikels in der Welt am Sonntag vom 5. April 2015. Auch „Die Welt“ vermutete bei der Bundesregierung „Angst vor Ankara“. Aber ist die Haltung der deutschen Regierung nur auf Druck aus Ankara zurückzuführen? Die eigentlichen Motive für die Weigerung Berlins, das Verbrechen als Völkermord zu bezeichnen, sind wohl andere. Wie im Bundestagsbeschluss von 2005 eingeräumt wurde, trug die kaiserliche Regierung eine Mitschuld an dem Verbrechen im verbündeten Osmanischen Reich. Würde die deutsche Regierung bzw. der Bundestag den Völkermord anerkennen, wäre damit zugleich auch die Mitschuld Deutschlands an einem Völkermord anerkannt.
Offensichtlich fürchten die politisch „entscheidenden Stellen“ in Berlin die Konsequenzen. Deutschlands Handlungsspielraum z.B. im Südkaukasus wäre eingeschränkt, denn vor dem Hintergrund einer Mitschuld am Völkermord müsste eine gewisse Rücksicht auf die Republik Armenien genommen werden. In Deutschland könnte die Stimme der kleinen armenischen Diasporagemeinde nicht so einfach ignoriert werden wie bisher. Berlin fürchtet im Falle einer Anerkennung wahrscheinlich weniger die Reaktionen aus Ankara als vielmehr die möglichen politischen – und vielleicht auch finanziellen – „Ansprüche“ von Armenier_innen. Die Deutsche und die Dresdner Bank waren 2006 von US-armenischen Anwälten mit einer Klage auf Schadensersatz in Millionenhöhe konfrontiert worden. Dass die für den Völkermord verantwortliche türkische Regierung damals Gold nach Berlin verfrachtet hat, das teilweise von den ermordeten Armenier_innen stammte, ist bekannt. Die Anerkennung des Völkermords würde wegen der Mitschuld Deutschlands am Verbrechen eine politische, moralische und möglicherweise finanzielle Belastung mit sich bringen.
Bodo Ramelows absurde Versöhnungsvorschläge
Zehn Jahr nach dem Bundestagsbeschluss hat sich zumindest eines geändert: Die Grünen setzen sich dafür ein, dass der Bundestag das Verbrechen im Osmanischen Reich als Völkermord anerkennt. Am deutlichsten wird der gründe Wandel in der Völkermordfrage an Cem Özdemir: 2001 nannte er das Verbrechen eine „ethnische Säuberung und Vernichtung“. Dies begründete er damit, dies sei schließlich auch der „Sprachgebrauch der demokratischen Opposition in der Türkei“.[1] Nachdem in der Türkei immer mehr Menschen zu der Einsicht kommen, dass es doch ein Völkermord war, übernahm auch Özdemir den neuen Sprachgebrauch.
Die Linke erscheint al die einzige deutsche Partei, die in der Völkermordfrage immer eine klare Position vertreten hat. [2] Doch ist da ein Vorfall, der einen hässlichen Kratzer auf dem makellosen Bild hinterlassen hat: Als sich Anfang 2005 abzeichnete, dass eine mögliche Anerkennung des Völkermords auf die Tagesordnung des Bundestags kommen würde, war es vor allem die Türkische Gemeinde Deutschlands, die heftig protestierte. An ihrer Spitze stand Prof. Hakki Keskin, langjähriger SPD-Politiker und zugleich eine Schlüsselfigur beim Aufbau einer Türkei-Lobby in Deutschland. Ausgerechnet ihn setzte der damalige PDS-Vorsitzende Lothar Bisky auf seine Kandidatenwunschliste für die Bundestagswahl 2005. Keskin, dessen politische Laufbahn bei der Hamburger SPD dem Ende entgegenging, nahm Biskys Angebot an. Die Proteste innerhalb der eigenen Partei und des Zentralrats der Armenier in Deutschland (ZAD) ließen Parteichef Bisky kalt. Wenige Monate nach dem Bundestagsbeschluss zum Völkermord wurde sein Kandidat in den Bundestag gewählt.
Als der ZAD Ende 2006 erneut Kritik an Keskin äußerte, trat der heutige Ministerpräsident in Thüringen, Bodo Ramelow, als besonders überzeugter Verteidiger seines völkermordleugnenden Genossen hervor. Ramelow regte sich darüber auf, dass „die Linksfraktion dazu gebracht werden sollte, die Meinungsfreiheit ihres Fraktionskollegen Keskin zu unterbinden“. Ramelow weiter: „Ich habe die bekannten historischen Tatsachen nie bestritten. Leider gibt es aber in der Geschichtsforschung neben klar belegten Tatsachen auch immer Raum für Interpretationen.“ Dem ZAD war er vor, eine Instrumentalisierung der Toten zu betreiben: „Anstatt den Konflikt durch die Instrumentalisierung der schmerzhaften Ereignisse zu verlängern, müssen die unterschiedlichen Wahrnehmungen zur Grundlage einer zivilisatorischen Versöhnung gemacht werden.“ Einen Beitrag des Bundestags zur „zivilisatorischen Versöhnung“ lehnte Ramelow ab, denn „so wie der Iran ungeeignet ist, das Thema Holocaust zu erörtern, so sind der Deutsche Bundestag oder die Französische Nationalversammlung ungeeignet, sich solcher Aufarbeitung zu bemächtigen“. Ramelow hatte damals alle Argumente des türkischen Staates ins Feld geführt, um seinen Genossen zu verteidigen.
Wenn die Linkspartei ihre Glaubwürdigkeit in der Völkermordfrage wiedererlangen will, müsste sie auch die Episode Keskin-Ramelow aufarbeiten. Sie sich bis heute weder für die Aufstellung und Wahl eines Völkermordleugners in den Bundestag entschuldigt, noch Ramelow für seine absurden Versöhnungsvorschläge kritisiert.
Staatliche Völkermordleugnung
Bezeichnend für die türkische Gesellschaft ist das insgesamt geringe Interesse am Thema. Fatih Akins Film „The Cut“, der in der Türkei gezeigt werden konnte, fand nur wenig Beachtung. Der darüber enttäuschte Filmemacher aus Hamburg beklagte ein „kollektives gestörtes Desinteresse“.
Es war vor allem der am 19. Januar 2007 verübte Mord an Hrant Dink, dem armenischen Journalisten und Herausgeber der in Istanbul erscheinenden Wochenzeitung Agos, der die türkische Gesellschaft aufgerüttelt hat. Dass über 100.000 Menschen hinter dem Sarg des Ermordeten durch Istanbul zogen und Schilder mit der Aufschrift „_Wir alle sind Armenier“ oder „Wir alle sind Hrant“ trugen, war ein unerwarteter Massenprotest gegen die rassistische Anfeindung und Diskriminierung der Armenier_innen. Es war auch ein Protest gegen staatliche Völkermordleugnung. Seit einigen Jahren versammeln sich am 24. April auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul, aber auch in anderen Städten wie Ankara und Izmir, Hunderte von Menschen, um an den Völkermord zu erinnern.
Es gibt also zweifellos eine Bewegung in der türkischen Gesellschaft, die eine Aufarbeitung und Anerkennung des Völkermords verlangt. Journalist_innentrauen sich, das Verbrechen als Völkermord zu bezeichnen, Verlage publizieren Bücher, die der offiziellen Darstellung widersprechen. Die vor der Ermordung Hrant Dinks üblichen staatlichen Schikanen und juristischen Verfolgungen sind weitgehend eingestellt worden. Auf den ersten Blick scheint all dies wie ein Verdienst der AKP-Regierung. Tatsächlich hat sie mit einer pragmatischen Wende den zunehmenden Druck sowohl im eigenen Land als auch des Auslands abzuschwächen versucht. Erdogan gab am 23. April 2014 eine Erklärung ab, die allgemein als eine Art Beileidsbekundung aufgefasst wurde. In der Erklärung ist die Rede von „Armeniern, die unter den Anfang des 20. Jahrhunderts herrschenden Bedingungen ihr Leben verloren haben“.
In der Völkermordfrage ist die AKP-Regierung sehr widersprüchlich und wird es wohl weiterhin bleiben. Innenpolitisch ist das Thema Völkermord unbedeutend und beschäftigt nur einen kleinen Kreis von linken Intellektuellen und Aktivist_innen der Zivilgesellschaft. Angesichts der Schwäche der Republik Armenien und auch der armenischen Diasporaorganisationen besteht für die türkische Regierung kein Anlass zur Sorge. Nach dem 24. April 2015 wird es so weitergehen wie gewohnt: In der Türkei und in Deutschland wird das „kollektive Desinteresse“ die 1,5 Millionen Opfer auch für die nächsten 100 Jahre weiter sterben lassen.
[1] SZ, 27.4.2001
[2] Karls Liebknecht, in dessen Tradition sich die Linkspartei sieht, hatte im Januar 1916 in einer Anfrage im Reichstag auf die Vernichtung der Armenier_innen in der verbündeten Türkei hingewiesen.