Steve Bannon, der ehemalige Berater Donald Trumps, erwartet bei der Wahl des Europaparlaments am 26. Mai ein „Erdbeben“. Wenn er damit einen Wahlerfolg der rechts-nationalen Parteien meint, dann könnte es zutreffen. Umfragen deuten darauf hin, dass sie bei der Europawahl gut abschneiden werden. Teile der Wählerschaft konservativer und christdemokratischer Parteien, aber auch der Sozialdemokraten werden wahrscheinlich für „Rechtspopulisten“ stimmen. Die neuen rechts-nationalistischen Parteien gewinnen in der Mittelschicht immer mehr Anhänger. In Deutschland ist die AfD zu einem Sammelbecken enttäuschter Wähler der CDU/CSU, der SPD und – vor allem in den östlichen Bundesländern – auch der Linkspartei geworden.
Politische, ökonomische und gesellschaftliche Unsicherheit, Enttäuschung und Frustration mit der herrschenden Politik führen dazu, dass ein Teil der Mittelschicht immer mehr nach rechts tendiert. Wohin das schlimmstenfalls führen kann, zeigt die Geschichte der Weimarer Republik in den 20er- und 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Das von Steve Bannon erhoffte bzw. erwartete große politische Erdbeben wird es wohl nicht geben, aber es wird zu einer Verschiebung des politischen Kräfteverhältnisses im Europaparlament nach rechts kommen. Die Verwirklichung der Idee einer europäischen Integration, die ohnehin ins Stocken gekommen ist, wird dadurch in weite Ferne rücken oder möglicherweise ganz aufgegeben.
In ihrem Gastbeitrag im Focus kommen Marc Friedrich und Matthias Weik zu einer dramatischen Einschätzung der Lage: „Die kommende EU-Wahl wird so spannend wie nie zuvor. Zu keiner Zeit war die EU mit mehr existenziellen Problemen konfrontiert als in den letzten Jahren: Brexit, Euro, Migration, Steueroasen, Arbeitslosigkeit – eine Krise folgt der anderen – und keine wurde gelöst. Die Quittung gibt es nach der Wahl. Mit Bangen erwarten die „großen Volksparteien“ CDU/CSU und SPD das Ergebnis der EU-Parlamentswahl. Die Frage ist schon lange nicht mehr, ob es eine Klatsche von den Wählern gibt, sondern lediglich wie groß diese sein wird.“[1] Zumindest in der SPD wird man gelassen auf die Voraussagen reagieren, denn die Sozialdemokraten haben sich inzwischen daran gewöhnt, große Klatschen einzustecken.
Sehnsucht nach der Nation
Langsam macht sich Panik breit, vor allem in Deutschland, wo der Mittelstand ein Wirtschaftsfaktor ist. Wenn die immer lauter werdenden Warnungen und Befürchtungen sich als begründet erweisen und der relativ lang andauernde Wirtschaftsboom in Deutschland endet, dann wird das negative Folgen auf die gesamte EU haben. Woher soll in Zeiten der Rezession das Geld kommen, um die überall auftretenden Probleme zu lösen?
Die EU und seine Institutionen haben sich zu einem undurchsichtigen, komplexen System entwickelt. Ein deutliches Anzeichen für das abnehmende Interesse an der „europäischen Idee“ ist die seit 1979 abnehmende Wahlbeteiligung. Die Mittelschichten, die bislang das Europa-Projekt unterstützt hatte, wenden sich enttäuscht davon ab. Gegenwärtig erlebt die „nationale Idee“ eine unerwartete Wiederauferstehung. Die Nation und eine nationale Regierung erscheinen als kontrollierbare, überschaubare Größen in einer immer komplexer werdenden Welt. Wer innerhalb von 4–5 Jahren auf mindestens vier verschiedenen Ebenen Abgeordnete wählen soll, wird kaum noch einen Überblick über die Arbeit der von ihm gewählten „Politiker“ haben, vor allem nicht die im EP.
Der gegenwärtige Wahlkampf unterscheidet sich von vorherigen vor allem dadurch, dass die proeuropäischen Parteien die neuen rechten Konkurrenten als Bedrohung für die Zukunft Europas und der europäischen Integration darstellen. Es ist zu einer seltsamen Lagerbildung gekommen: bürgerlich-konservative, linke oder grüne proeuropäische Parteien einerseits und die rechtsnationalistischen Parteien andererseits. Die Vertreter der verschiedenen Strömungen der „europäischen Idee“ haben die Europawahl zur „Schicksalswahl der EU“ erklärt; genaugenommen geht es aber auch um ihr eigenes politisches „Schicksal“: „In ganz Europa werden extreme und EU-kritische Kräfte starke Gewinne verzeichnen. Dieser Trend wird auch insgesamt anhalten, solange die Politik sich nicht grundlegend ändert.“[2]
Die verschiedenen rechtsnationalen Parteien werden nach ihrem voraussichtlichen Wahlerfolg einen Anteil am europäischen Kuchen beanspruchen, den die konservativen, christdemokratischen und sozialdemokratischen Parteien weitgehend unter sich aufgeteilt haben; diese müssen um ihre sicher geglaubten Pfründe bangen. Der politische und materielle Verteilungskampf innerhalb der Eliten in der EU und seinen diversen Institutionen sich unvermeidbar verschärfen wird.[3]
Geteilt und beherrscht oder vereinigt und beherrscht
Vielleicht ist das drohende Chaos in der EU für den einstigen Berater Trumps das, was er sich erhofft, denn schließlich ist die EU neben China ein ernsthafter Konkurrent für die USA. Die US-Regierung ist deshalb an einer Schwächung der EU interessiert, denn mit den einzelnen Mitgliedsstaaten kann sie bessere „Deals“ abschließen als mit einer starken EU. Außer der Politik des teile und herrsche bleibt den USA ohnehin keine andere Möglichkeit, um ihre immer stärker werdenden Rivalen – dazu zählt auch Deutschland und die EU – zu schwächen. Steve Bannons Aktivitäten zur Stärkung der neuen Rechten in der EU erscheinen in diesem Zusammenhang wie ein Teil einer „inoffiziellen“ Europa-Politik Washingtons. Als Berater der neuen Rechten in der EU leitet Bannon eine Sondermission zur Unterminierung der EU. Es ist wohl auch Teil dieser Politik, dass Richard Grenell, der undiplomatisch-offen seine Unterstützung für konservative Parteien in Europa bekundet, auf den Botschafterposten in Berlin kam. Der Ex-Berater Trumps und der Diplomat Grenell ergänzen sich ideal.
Stefan Kornelius, der Leiter des außenpolitischen Ressorts der SZ, geht davon aus, dass die US-Politik des teile und herrsche deshalb gefährlich werden kann, weil es noch einen „Bindungsdefizit“ in der EU gibt: „Die Anfälligkeit der Mitteleuropäer für Lockungen aus Washington oder selbst aus Peking zeugt von einem Bindungsdefizit. Das können nur Berlin und Brüssel ausgleichen“.[4] Der deutsche Führungsanspruch in der EU weckt aber bei manchen Nachbarn schlechte Erinnerungen und Misstrauen. Ein aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke arrogant auftretendes Deutschland wird bei seinen Nachbarn sicherlich kein Vertrauen schaffen können.
Der zunehmende Nationalismus in der EU bedeutet aber vor allem für Deutschland eine Gefahr: Wenn wegen den „Bindungsdefiziten“ die Fäden nicht mehr nach Berlin oder Brüssel laufen bzw. dort kontrolliert werden, sondern in Washington, dann wird es für die deutsche Regierung schwierig werden, seine Interessen durchzusetzen. Es wäre naiv zu denken, dass die „staatstragenden“ Parteien und Politiker in Deutschland so vehement für die „europäische Integration“ und gegen Nationalismus und „Rechtspopulismus“ eintreten, weil sie überzeugte Anti-Nationalisten sind. Vielmehr befürchten sie, dass die bislang erfolgreiche vereinige und herrsche Politik – als „europäische Integration“ verpackt – nach dem 26. Mai nicht mehr wie gewohnt fortgesetzt werden kann.
[1] https://www.focus.de/finanzen/boerse/experten/gastbeitrag-von-marc-friedrich-und-matthias-weik-das-maerchen-vom-reichen-land-nach-der-eu-wahl-kommt-bei-uns-das-grosse-beben_id_10683838.html
[2] https://www.focus.de/finanzen/boerse/experten/gastbeitrag-von-marc-friedrich-und-matthias-weik-das-maerchen-vom-reichen-land-nach-der-eu-wahl-kommt-bei-uns-das-grosse-beben_id_10683838.html
[3] https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/europawahl-das-feilschen-um-die-spitzenjobs/24329598.html
[4] https://www.sueddeutsche.de/politik/usa-europa-teile-und-herrsche-1.4328154