Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder mag das Verbrechen an den Armeniern im Osmanischen Reich nicht als Völkermord bezeichnen. Er redet in diesem Zusammenhang lieber von „Vorgängen“. Die Völkermordfrage bezeichnet er als „Armenien-Thema“. Schröder befürwortet eine „historische Aufarbeitung“ und bezweifelt somit die historische Faktizität des Völkermords an den Armeniern.
Seine wahren Motive versteckt er hinter einer angeblichen Holocaustrelativierung: „Manche setzen die Vorgänge sogar mit dem Holocaust gleich. Das ist unzulässig und läuft auf eine Relativierung des Holocausts hinaus, der vor allem die Deutschen widersprechen müssen.“[1] Das Schröder-Interview sorgte in der armenischen Gemeinschaft für große Empörung. Aber nicht nur hier stößt er auf Widerspruch: Der jüdische Publizist Henry M. Broder fragte in einem bissigen Kommentar: „Gibt es einen Holocaust-Copyright, Herr Schröder?“[2]
Der Zentralrat der Armenier befand, dass Schröder den Völkermord an den Armenier „bagatellisiert“. Laut „Duden“ bedeutet eine „Bagatelle“ eine „unbedeutende, geringfügige Angelegenheit“, eine „Kleinigkeit“. Jemand, der den Völkermord an den Juden verharmlost oder relativiert gilt bereits als Völkermordleugner. Die Armenier fordern zu Recht, dass das Verbrechen im Osmanischen Reich beim Namen genannt werden soll, aber offenbar schrecken sie davor zurück, jemanden, der den Völkermord „bagatellisiert“ als einen Völkermordleugner zu bezeichnen. Warum hält sich aber der ZAD zurück? Wenn Schröder den Völkermord an den Armeniern als eine Bagatelle darstellt, dann muss er ebenso genannt werden wie einer, der den Völkermord an den Juden bagatellisiert: Völkermordleugner!
Der Ex-Bundeskanzler weiß ganz genau, dass sein Freund Erdogan sehr wütend reagiert, wenn das an den Armeniern verübte Verbrechen als Völkermord bezeichnet wird. Vor sechs Jahren hatte sich die Wut des türkischen Regierungschefs auf Schröder entladen. Damals, als Schröder Bundeskanzler war, kam die Frage des Völkermords an den Armeniern auf die Tagesordnung des Bundestags. Die CDU/CSU Fraktion hatte nicht ganz zufällig diesen Zeitpunkt gewählt: Die EU musste über die Frage der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei entscheiden und die Schröder/Regierung galt als entschiedener Befürworter einer EU-Mitgliedschaft der Türkei. Sie konnte aber nicht verhindern, dass die christlich-demokratische Opposition einen Antrag zum Verbrechen im Osmanischen Reich einbrachte. Wie nicht anders zu erwarten war, kam es seinerzeit deshalb zu Protesten der türkischen Regierung und türkisch-nationalistischer Verbände in Deutschland.
Der Bundestagsbeschluss bildet kein Ruhmesblatt, sondern eher ein schändliches Polit-Manöver in der Geschichte des deutschen Parlaments. Es ging darum, das leidige Thema endlich loszuwerden, ohne dabei die befreundete Türkei allzusehr zu verärgern. Bereits vor der Bundestagsdebatte, die kurz vor dem 90. Jahrestag des Völkermords stattfand, hatten sich Opposition und Regierungsfraktionen hinter den Kulissen darauf geeinigt, auf der Grundlage des CDU/CSU Papiers einen gemeinsamen Beschlussantrag zu dem brisanten Thema zu formulieren. Anfang Mai 2005 stand ein Besuch in Ankara auf dem Terminplan Gerhard Schröders. Die bevorstehende Entscheidung des Bundestags zum Verbrechen im Osmanischen Reich war somit ein heißes Eisen bei den Gesprächen in Ankara.
Im Bundestag wurde am 15. Juni mit den Stimmen aller Fraktionen eine Beschlussfassung angenommen, mit der an die „Vertreibung und Massaker an den Armeniern 1915“ erinnerte wurde. „Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen“, heißt im zweiten Teil der langen, zweiteiligen Überschrift des deutschen Appells an Türken und Armenier. Bis heute ist nicht erkennbar, was die Bundesregierung oder die Landesregierungen unternommen haben, um ihren vom Bundestag geforderte Beitrag für die Versöhnung zu leisten.
Erdogan gab sich trotzdem tief enttäuscht und warf Schröder vor, er habe kein Rückrat. Der türkische Regierungschef war wütend, weil Schröder ihm beim Besuch im Mai in Ankara versichert hätte, dass er in der Völkermordfrage die türkische Sicht teilen würde.[3] Vermutlich vergaß Schröder seinem Freund zu sagen, dass es nicht in seiner Macht lag, eine Beschlussfassung des Bundestags zu verhindern.
Bereits im Vorfeld der Debatte im Bundestag war es klar absehbar, dass die Fraktionen die „rote Linie“ der Türkei nicht überschreiten und das Verbrechen im Osmanischen Reich nicht beim Namen nennen würden. Im Zeitraum vom April bis Juni 2005 hätte die armenische Gemeinschaft deshalb deutlich machen müssen, dass sie einen Beschluss, in der das Verbrechen nicht beim Namen genannt wird, niemals akzeptieren würde.
Die üble Beleidigung der Rückgratlosigkeit Gerhard Schröder seinem türkischen Freund längst verziehen. Erdogan bekam später eine Einladung zu Schröders Geburtstagsfeier. Vielleicht hat er bei der Gelegenheit dem „rückratlosen“ Freund ein Korsett geschenkt und ihm versichert, dass es zum üblichen Ritual türkischer Politik gehört, gegen jeden Beschluss zu protestieren, der an die blutige Vergangenheit der Türkei erinnert.
Der Bundeskanzler a.D. ist sich sicher: „Für eine globale Rolle braucht Europa die Türkei“. Weil ihm die Türkei bei der Durchsetzung der „geostrategischen Interessen“ Europas unentbehrlich erscheint, setzt er sich – genauso wie sein ehemaliger Vize Fischer – dafür ein, „auf allen Ebenen die Partnerschaft mit dem Land am Bosporus zu stärken“. Egal ob es um die Völkermordfrage oder um die seit über 37 Jahren andauernde Besetzung Nord-Zyperns handelt: Schröder kommt stets dem türkischen Standpunkt entgegen. Im Prinzip denkt er so wie einst der kaiserliche Reichskanzler Bethmann Hollweg, der trotz der Vernichtungpolitik des jungtürkischen Regimes verkündete, es sei notwendig, „die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“[4]
Die scharfe Kritik von Henry M. Broder kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich weder die deutsche Öffentlichkeit noch die Medien für Schröders Äußerung interessieren. Leider hat sich längst eine Sichtweise durchgesetzt, die beim Interviewer von der „Peiner Allgemeine Zeitung“ deutlich wird, der die folgende, weit verbreitete Formulierung benutzt: „Massaker an der armenischen Minderheit während des Ersten Weltkriegs, die viele als Völkermord einstufen“.
Es zeigt sich wieder einmal, wie ohnmächtig die armenische Gemeinschaft ist und wie wenig Gehör ihre Proteste finden. Ob die angekündigten Strafanzeigen gegen Schröder etwas bewirken können, ist zweifelhaft. Wir müssen aus den Fehlern und Versäumnissen der Vergangenheit die Lehre ziehen, dass viel mehr getan werden muss, damit Öffentlichkeit, Politik und Medien die armenische Gemeinschaft ernst nimmt. Bis zum 100. Jahrestag des Völkermords sind es nur noch vier Jahre, aber von einer klaren Anerkennung des Verbrechens als Völkermord sind wir in Deutschland noch entfernt.
Toros Sarian
[1] http://www.paz-online.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/Schroeder-Fuer-eine-globale-Rolle-braucht-Europa-die-Tuerkei
[2] http://www.welt.de/debatte/henryk-m-broder/article12677913/Gibt-es-ein-Holocaust-Copyright-Herr-Schroeder.html
[3] http://www.tagesspiegel.de/politik/erdogan-nennt-schroeder-rueckgratlos/617338.html
[4] www.armenocide.net, Dokument 1915-12-07-DE-001