Am 24. April fand anlässlich des 100. Jahrestags des Völkermords an den Armeniern eine Debatte im Bundestag statt. Die Regierungskoalition, die Grünen und die Linkspartei hatten jeweils einen eigenen Antrag eingebracht. Drei unterschiedliche Anträge zu einem Thema, bei dem erwartet werden konnte, dass alle Bundestagsfraktionen sich vorab auf einen gemeinsamen Antrag verständigen und das Verbrechen als Völkermord anerkennen. Der Papst hatte es wenige Tage zuvor so genannt, das Europäische Parlament ebenfalls. Aber die Regierungskoalition wollte es nicht so bezeichnen. In seinem Kommentar im Spiegel-Online Magazin warf ihnen Severin Weiland Wortklauberei und Wortakrobatik vor.(1) Für die große Koalition scheint dies der einzig verbliebene Ausweg gewesen zu sein, um sich wieder vor einer Anerkennung des Völkermords an den Armeniern zu drücken.
Deutsche Versöhnungsmakler
Bei den Oppositionsparteien sah es anders aus. Der Antrag der Linken trägt die Überschrift: „100. Jahresgedenken an den Völkermord an den Armenierinnen und Armeniern 1915/16 – Deutschland muss zur Aufarbeitung und Versöhnung beitragen“.(2) Die Linke hat sich vielleicht von der Überschrift des Bundestagsbeschlusses vom Juni 2005 inspirieren lassen, wo es heißt, „Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen“.
„In Gesellschaft und Politik“, so steht es in Wikipedia zu lesen, „wird Versöhnung als ein möglicher Bestandteil einer Vergangenheitsbewältigung und/oder Konfliktregelung betrachtet.“ Deutsche Politiker sind aber offenbar der Überzeugung, dass Versöhnung ein ganz entscheidender Bestandteil der Vergangenheitsbewältigung ist und dass sie bereits vor einer Anerkennung des Verbrechens stattfinden könne. Sie sind besessen von dem Wunsch Armenier und Türken oder genauer: die Republik Türkei mit der Republik Armenien miteinander zu versöhnen. Ob diese überhaupt erwarten, dass Deutschland sie miteinander versöhnt oder einen Beitrag zur Aufarbeitung leistet, interessiert deutsche Politiker nicht, sie wollen zeigen, dass ihr Staat in der Frage der Aufarbeitung und Versöhnung – im Zusammenhang mit dem Holocaust – vorbildliches geleistet hat und somit gewissermaßen prädestiniert ist, in Fragen der Aufarbeitung von historischen Verbrechen und der Versöhnung behilflich zu sein. Und indem die Bundestagsparteien auf eine Versöhnung drängen, versuchen sie den zu erwartenden Unmut Ankaras zumindest etwas abzufedern.
Der Bundestag, so der Wunsch der Linken, soll die Bundesregierung damit beauftragen, der „türkischen Regierung geeignete Maßnahmen vorzuschlagen sowie finanziell zu unterstützen“. Ist die Türkei, die sich die zweitgrößte Nato-Armee leistet und jährlich Milliarden für einen Krieg gegen die Kurden ausgibt, auf deutsche Versöhnungssubventionen angewiesen? Maßnahmen vorschlagen und Geld geben ist die bekannte Allzweckformel, mit der deutsche Politiker glauben, alle Probleme lösen zu können. In den Köpfen parlamentarischer Politbürokraten sind „Maßnahmen“ und Geld der Universalschlüssel zur Lösung aller Probleme.
Alle Bundestagsfraktionen sind sich offensichtlich einig: Deutschland hat nach seiner „unrühmliche Rolle“ vor 100 Jahren jetzt eine rühmliche Rolle als Versöhnungsmakler zu übernehmen. Statt sich den seit Jahren vorgetragenen penetranten Versöhnungsappellen der anderen Parteien anzuschließen, hätten die Linken bereits in der Überschrift einen anderen klaren Akzent setzen können, indem sie z.B. schreiben: Deutschland muss den Völkermord an den Armeniern anerkennen.
Waren nur „anatolische Armenier“ die Opfer?
Bereits am Anfang des Antragstextes wird die mangelhafte Kenntnis der Autoren deutlich: Wer von der „Vernichtung der armenischen Bevölkerung Anatoliens“ spricht, der weiß offenbar nicht, dass von den Deportationen und Massakern nicht nur die Armenier in „Anatolien“ betroffen waren, sondern auch die im europäischen Teil des Osmanischen Reiches. Die geographische Bezeichnung Anatolien bezieht sich genaugenommen nur auf die westliche Hälfte des asiatischen Teils der heutigen Republik Türkei. Diese Bezeichnung wurde nach Gründung der Republik Türkei 1923 auch auf die Gebiete ausgedehnt, die als Westarmenien, Nordkurdistan bzw. Nordmesopotamien gelten. Die Linke übernimmt einfach die vom türkischen Staat neu definierte Bezeichnung „Anatolien“. Armenier sind aus ihrer der Sicht genauso Anatolier, wie Kurden oder Türken. Die Türkisierung des Staates schloss auch die Änderung der traditionellen Ortsnamen ein: Nach 1923 wurden alle Ortsnamen geändert, die einen Rückschluss auf die nichttürkischen Einwohner erlaubt hätten.
Wer von der „Vernichtung der armenischen Bevölkerung Anatoliens“ spricht, ignoriert die Tatsache, dass z.B. 30.000 Armenier aus der Hauptstadt Konstantinopel deportiert wurden, dass die Armenier der an der bulgarischen Grenze gelegenen Stadt Edirne oder aus anderen Teilen West-Thrakiens von der Deportationen nicht verschont blieben. Vom Vernichtungsplan des jungtürkische Regimes waren also Armenier in allen Teilen des Osmanischen Reiches betroffen, auch die, die im europäischen Teil lebten. Ab Anfang 1918 drangen die türkischen Truppen auch in Ostarmeniens ein. Von der türkischen Völkermordpolitik wurden auch die Armenier in den von türkischen Truppen besetzten Teilen des Südkaukasus nicht verschont.
Türkische „Homogenisierungspolitik“ und deutsche „Schutzmacht“
In Punkt drei des Antrags ist von der „Homogenisierungspolitik“ der jungtürkischen Regierung die Rede. Was unter „Homogenisierungspolitik“ zu verstehen ist, kann nur vermutet werden. Doch abgesehen davon ist dieser Begriff schwammig – und verharmlosend. Nach welchen Kriterien sollte „homogenisiert“ werden? Religion? Ethnie? Oder beides? Eine „Homogenisierungspolitik“ muss nicht zwangsläufig die physische Vernichtung von 1,5 Mio. Menschen bedeuteten. Völkermord ist ein Mittel der „Homogenisierung“ eines Staates, aber eben nicht das einzige Mittel. Dem jungtürkischen Regime ging es konkret darum, die armenische Bevölkerung auszulöschen. Unter ihren Nachfolgern wurde dann das kulturelle Erbe der Armenier fast vollständig zerstört oder dem Verfall überlassen.
In Punkt drei wird Deutschland als „Schutzmacht“ des Osmanischen Reiches bezeichnet.
Gegen wen wollte Deutschland seinen Kriegsverbündeten schützen? Hier scheinen die Autoren des Antrags nicht verstanden zu haben, dass das jungtürkischen Regime ganz bewusst ein Kriegsbündnis mit Deutschland eingegangen war, um einerseits ungehindert seinen gewaltsamen Türkisierungsplan und andererseits eigene expansionistische Ziele zu verwirklichen: Die Vereinigung mit den im Kaukasus und Mittelasien lebenden Turkvölkern. Eine konkrete Bedrohung durch andere Großmächte bestand vor Abschluss des deutsch-türkischen Geheimvertrags am 2. August 1914 nicht. Deutschland wurde vom extrem nationalistischen Regime in Konstantinopel auch nie als eine „Schutzmacht“ betrachtet. Das deutsch-türkische Kriegsbündnis war auf Expansion ausgerichtet, wobei die Expansion des Osmanischen Reiches sich vor allem gegen das zaristische Russland richtete, auf dessen Staatsgebiet die Turkvölker lebten.
Hilfsbereite Linke wollen Versöhnung und Ausgleich
Die Linke fordert von der Bundesregierung, „dabei mitzuhelfen, dass zwischen Türkinnen und Türken sowie Armenierinnen und Armeniern ein Ausgleich durch Aufarbeitung, Versöhnen und Verzeihen historischer Schuld erreicht wird“. Was ist unter einem „Ausgleich“ zu verstehen? Die Forderung nach einer Aufarbeitung betrifft die Türkei bzw. die Türken, die seit 100 Jahren das Verbrechen leugnen. Sie haben sich das Land und das Eigentum der ermordeten oder vertriebenen Armenier angeeignet. Dafür müssten sie einen „Ausgleich“ leisten. Verzeihen ist eine individuelle Angelegenheit, d.h. jeder Armenier kann, nachdem die Türkei das Verbrechen anerkannt hat, selber frei entscheiden, ob er der Türkei verzeiht. Vor einigen Jahren wurde dort eine Kampagne „Ich entschuldige mich“ initiiert, die von einigen Tausend Bürgern unterschrieben wurde. Ein Armenier könnte also die „Entschuldigung“ der Unterzeichner annehmen oder nicht. Bleibt die Frage, was denn die Armenier „ausgleichen“ sollen.
In Punkt acht fordert die Linken von der Bundesregierung „dabei mitzuhelfen, dass die Türkei und Armenien ihre früheren Bemühungen zur Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen wieder aufnehmen“. Die Republik Armenien war bereit, in der Völkermordfrage ein sehr weit gehendes Zugeständnis zu machen, um die Beziehungen mit der Türkei zu normalisieren. Die im Beisein des russischen Außenministers Lawrow, der US-Außenministerin Clinton und es EU-„Außenministers“ Javier Solana am 10. Oktober 2009 in Zürich unterzeichneten Protokolle wurden nicht umgesetzt, weil wenige Tage nach der Unterzeichnung die türkische Regierung plötzlich von Jerewan Zugeständnisse in der Karabach-Frage verlangte. Die Normalisierung scheiterte also daran, dass Ankara für die Ratifizierung der Protokolle im Nachhinein Bedingungen aufstellte, die für die armenische Regierung unannehmbar waren. Entweder ist den Linken nicht bekannt, dass der damalige Regierungschef Erdogan verantwortlich war für das Scheitern der Normalisierungsbemühungen oder bestimmte Kreise innerhalb der Fraktion wollten aus bestimmten Gründen eine „Ausgewogenheit“, die im Grunde darauf hinausläuft, dass die türkische Regierung, die für das Scheitern des Normalisierungsprozesses verantwortlich war, gewissermaßen entlastet wurde.
Armenische „Flüchtlingstrecks“ mit Wachmannschaft
Die Merkwürdigkeiten setzen sich fort in der Begründung des Antrags, der sich liest wie ein – arg misslungener – Abriss der Geschichte des Völkermords von 1915. Da heißt es z.B.: „Armenische Frauen, Kinder und Alte wurden ab Frühjahr 1915 nicht nur aus den frontnahen Gebieten im Osten, sondern aus Gesamtanatolien deportiert und auf Todesmärsche durch die syrische Wüste geschickt.“ Im darauf folgenden Satz steht: „Die Flüchtlingstrecks waren häufig das Ziel von vorab informierten Banden, die die Deportierten zum Teil unter Beteiligung der sie begleitenden Wachmannschaften ausplünderten und niedermetzelten. Minderjährige Mädchen und Jungen wurden hierbei oft entführt und versklavt.“ Zuerst heißt es, die Armenier wurden deportiert und auf Todesmärsche geschickt, dann ist in folgenden Satz plötzlich die Rede von „Flüchtlingstrecks“. An einer weiteren Stelle heißt es, die armenischen Bevölkerung sei „vertriebenen“ worden. Die Linken scheinen sich entweder nicht darüber im Klaren zu sein, was 1915 passierte oder es wurde aus bestimmten Interessen und Absichten ganz bewusst unklar formuliert.
Lungerten etwa mitten im Krieg überall „Banden“ umher, die nur darauf warteten, von staatlichen Instanzen informiert zu werden, wo sie armenische „Flüchtlingstrecks“ überfallen, niedermetzeln und Minderjährige in die Sklaverei verschleppen konnten? Sollten armenischen „Flüchtlingstrecks“ wohlbehütet von Wachmannschaften in einen anderen Teil des Landes geleitet und die Armenier dort angesiedelt werden? Hier drängen sich Fragen über Fragen auf. Und nicht nur das: Es gehört zu den Behauptungen der offiziellen türkischen Darstellung, dass die Verluste und Leiden der Deportierten nicht in der Absicht der damaligen Regierung lagen, sondern dadurch entstanden seien, dass aufgrund der allgemein chaotischen Zustände während des Krieges unkontrollierbare „Banden“ Verbrechen verübt hätten.
Angewohnheiten einer Oppositionspartei: Forderungen aufstellen und eigene Versäumnisse verschweigen
Zehn Jahre nach dem Bundestagsbeschluss von 2005 fordert die Linke, „die Aufnahme des Völkermordthemas in die Curricula des Schulunterrichts“. Eine wichtige Forderung, die zwar bereits 2005 aufgestellt, aber von Konferenz der Kultusminister der Bundesländer nie von der Konferenz der Kultusminister der Bundesländer umgesetzt wurde. In den Bundesländern, wo die Linke an der „Regierungsverantwortung“ beteiligt war oder ist, hat sie auch nichts unternommen hat, damit das Thema Völkermord an den Armeniern im Schulunterricht behandelt wird.
Fazit
Die Linksfraktion hätte in einem kurzen und klar formulierten Antrag sich abgrenzen können von den Anträgen der Regierungskoalition oder der Grünen. Stattdessen wurde viel Überflüssiges in den Antrag hineingetextet, der Versöhnungsgedanke übermäßig betont und im Begründungsteil sind zahlreiche Fehler und Widersprüchliches enthalten. Der Antrag der Linken bleibt im Wesentlichen im Rahmen des Beschlusses von 2005, teilweise wurden Passagen daraus fast wortwörtlich übernommen. Der Wert des insgesamt schwach und fehlerhaft formulierten Antrags liegt in einem einzigen Satz: „Der Deutsche Bundestag bewertet die von der jungtürkischen Regierung des Osmanischen Reichs systematisch geplante und organisierte Vernichtung der armenischen Bevölkerung als Völkermord nach der UN-Konvention über die Bestrafung und Verhütung des Völkermords von 1948.“ Die Nachkommen derer, die in „Flüchtlingstrecks“ – beschützt von pflichtbewussten türkischen Wachmannschaften – ihre Heimat lebend verlassen durften, können lediglich diesen einen Satz im Antrag der Linksfraktion würdigen.