Nun zeichnet sich immer deutlicher ab, wie eine „Lösung“ des Konflikts in Berg-Karabach aussehen soll. Kurz bevor die Präsidenten Frankreichs, Russlands und der USA auf dem G-8 Gipfel im italienischen L’Aquila eine Erklärung zur Lösung des Karabach-Konflikts abgaben, erklärte Aliyev, dass eine grundsätzliche Einigung über eine Lösung des Konflikst erzielt worden sei. Demnach sollten nach dem Abzug der Armenier aus 5 der 7 Bezirke, die um Berg-Karabach liegen, auch die zwei übrigen Bezirke, die Berg-Karabach mit der Republik Armenien verbinden, an Aserbaidschan abgetreten. „Nachdem die aserbaidschanischen Flüchtlinge nach Berg-Karabach und Shusha zurückgekehrt sind, wird natürlich über den zukünftigen Status diskutiert werden“, so Aliyev. „Natürlich soll Berg-Karabach einen bestimmten Status erhalten. Wir sehen das ein. Aber wir sehen dies nicht außerhalb des souveränen aserbaidschanischen Staates. Ich denke, der Verhandlungsprozess könnte nach der Befreiung der besetzten Gebiete konstruktiver sein“, fügte Aliyev hinzu. (1)
Am 10. Juli haben die Präsidenten Frankreichs, Russlands und der USA auf dem G-8 Gipfeltreffen im italienischen L’Aquila in einer Erklärung das bestätigt, was der aserbaidschanische Präsident bereits verkündet hatte. Ob die armenische Regierung mit einer solchen stufenweisen Rückgabe Berg-Karabachs an Aserbaidschan einverstanden ist oder nicht: Der Druck auf die Armenier, einer „Kompromisslösung“ zuzustimmen, wird nun deutlich zunehmen. Aserbaidschan hingegen kann aber zufrieden sein, denn der von den drei Staatschefs aufgezeigte Lösungsweg entspricht mehr oder weniger ihrer Vorstellung von einer stufenweisen Rückgewinnung der Kontrolle über Berg-Karabach. Ob dann irgendwann in ferner Zukunft der „Wille“ der Armenier in Berg-Karabach jemals Berücksichtigung finden wird, ist zu bezweifeln. Wie konnte es dazu kommen, dass der unter großen Opfern errungene Sieg im Befreiungskrieg, der mit dem Waffenstillstandsabkommen vom 12. Mai 1994 „eingefroren“ wurde, jetzt aufgetaut wird, wobei es ganz danach aussieht, dass den Armeniern nach dem Auftauen nicht mehr viel – vielleicht sogar gar nichts – übrig bleiben wird?
Vor allem die EU und die USA drängen den im Südkaukasus isolierten Verbündeten Russlands seit langem zu einem Einlenken. Der Westen ist immer dort an „Stabilität und Sicherheit“ interessiert, wo es um seine Energieversorung geht. Im März 2009 hat der Deutsche Bundestag in einem Beschluss auf Bedeutung des Südkaukasus hingewiesen: „Die drei Südkaukasischen Republiken bilden eine wichtige Verbindung Europas zu Zentral- und Südwestasien. Die Region kann als Förder- und Transitgebiet für fossile Energieträger aus der kaspischen Region eine wichtige Rolle für die Sicherheit der Energieversorgung Deutschlands und Europas spielen“. Vor dem Hintergrund des russisch-georgischen Krieges wird im Beschluss auch festgestellt, „dass die ungelösten regionalen Konflikte jederzeit zur Erhöhung von Spannungen genutzt werden können und im Extremfall zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen, die Konsequenzen weit über die Region hinaus haben“. (2)
Zweifellos hat die wachsende Bedeutung der Öl- und Gasvorkommen im kaspischen Becken und Zentralasien zu einer Stärkung Aserbaidschans und auch der Türkei geführt. Beide nutzen dies bereits seit Jahren aus, um Druck auf den Westen auszuüben. Die Botschaft an die Adresse des Westens ist klar und einfach: Die „instabile Lage im Südkaukasus“ gefährdet die „Sicherheit der Energieversorgung Europas“. Nur dann, wenn die „territoriale Integrität“ Aserbaidschans anerkannt wird, könnten Öl und Gas ungehindert in den Westen ließen. Berg-Karabach ist der politische Preis, den Aserbaidschan und die Türkei für die „Sicherheit der Energieversorgung Europas“ verlangen.
Inzwischen scheint auch Russland, der engste Verbündete Armeniens, geneigt, diesen Preis zu zahlen, um seine Position in der Region zu bewahren. Bei einem Blitzbesuch des russischen Präsidenten in Baku wurde Ende Juni ein Vertrag über Gaslieferungen Aserbaidschans an Russland unterzeichnet. Um den Zugriff des Westens von die aserbaidschanischen Öl- und Gasvorkommen zu verhindern, boten die Russen sogar einen Rekordpreis für das aserbaidschanische Gas an, das ab 2010 nach Russland fließen soll. Im Wettkampf um die Kontrolle über die Öl- und Gasvorkommen in der kaspischen Region war Moskau sicher nicht nur bereit einen Rekordpreis für das Gas zu zahlen. Die Regierung in Baku weiß um die Schlüsselrolle Russlands, dem wichtigsten Verbündeten Armeniens. Es scheint, dass der russische Präsident bei seinem Kurzbesuch in Baku den Aserbaidschanern Entgegenkommen signalisiert hat, denn nach dem Treffen mit Putin sagte Aliyev: “Wir rechnen auch in Zukunft mit der aktiven Beteiligung Russlands als Vermittler und als Nachbar von Aserbaidschan bei der Regelung dieses komplizierten Problems”. “Der Verhandlungsprozess“, fügte Aliyev dann hinzu, „tritt heute in seine abschließende Phase ein”. (3)
Politisch, wirtschaftlich und militärisch ist die Abhängigkeit Armeniens von Russland so stark, dass das Land selbst dann, wenn Moskau seinen engsten Verbündeten im Stich lassen sollte, sich nicht in Richtung Westen umorientieren oder diese Option zumindest ins Spiel bringen könnte. Der Handlungsspielraum der Regierung in Yerevan ist also denkbar eng und die viel gerühmte komplementäre Außenpolitik konnte daran nicht viel ändern. Es wird auch übersehen, dass Aserbaidschan und die Türkei seit langer Zeit ebenfalls eine komplementäre Außenpolitik praktizieren – und sie waren damit weitaus erfolgreicher als Armenien. Der NATO-Staat Türkei hat nicht nur seine wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Russland vertieft, sondern bezieht von dort auch immer mehr Rüstungsgüter. Innerhalb von fünf Monaten waren nacheinander der türkische Regierungschef, der Staatspräsident und der Parlamentspräsident in diesem Jahr zu Verhandlungen in Russland. Inzwischen bezeichnen sich beide Staaten als „strategische Partner“ und von „besonderen Beziehungen“.
Die Entwicklung der vergangenen Jahre hat unaufhaltsam zu einer für Armenien ungünstigen Lage geführt. Auf armenischer Seite wurde die Gefahr, die mit der Stärkung der aserbaidschanisch-türkischen Position einherging nicht wahrgenommen oder heruntergespielt. Es kam auch teilweise zu einer Fehleinschätzung der Entwicklung. Ein Beispiel dafür ist die von manchen armenischen „Experten“ vertretene Ansicht, dass die Position Armeniens durch die Ölförderung Aserbaidschans eher gestärkt würde. Melcon G. Melconian, ein Experte der Öl-Wirtschaft, schrieb in einem Artikel 1999 im „Armenian Forum“, dass Öl-Unternehmen an sicheren Transportverbindungen interessiert seien. (4) Weil der Transportweg für das aserbaidschanische Öl in unmittelbarer Nähe Berg-Karabachs verlaufe, würde seine Sicherheit somit in der Hand Armeniens liegen. Dies würde zu einer Stärkung der armenischen Verhandlungsposition beitragen. Ist es wirklich ein Glücksfall für Armenien, dass Aserbaidschan sich dank der Ölexporte wirtschaftliche entwickelt, seine Bedeutung für den Westen – und auch für Russland – zugenommen hat und die Petro-Dollars eine massive militärische Aufrüstung ermöglichen?
Selbst im Falle eines armenisch-aserbaidschanischen Krieges ist ein armenischer Angriff auf die Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline kaum zu erwarten. Wenn es doch dazu kommen sollte, dann würde dies vom Westen als ein Angriff auf ihre „Energieversorgung“ betrachtet. Es müsste auch mit einer harten Reaktion der Türkei, dem Hauptverbündeten Aserbaidschans gerechnet werden, das aus dem Öltransit beträchtliche Einnahmen erzielt. Als im August 2008 die Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline durch einen Anschlag in der Nähe von Erzurum unterbrochen wurde, bedeutete dies einen täglichen Verlust von 300.000 Dollar für die Türkei. Es ist kaum vorstellbar, dass eine Bedrohung der Pipeline ohne Konsequenzen für Armenien bleiben würde.
Immer wieder wird von armenischer Seite von einer „Schlüsselposition“ oder sogar „strategischen Bedeutung“ Armeniens in der Region gesprochen. Worin besteht nun die Schlüsselposition eines kleinen, isolierten Landes? Sie besteht eigentlich darin, dass bei einer erneuten Eskalation des Karabach-Konflikts die „Sicherheit der Energieversorgung Europas“ gefährdet sein könnte. Solange die Öl- und Gasvorkommen der kaspischen Region noch unbedeutend waren, sah der Westen keinen dringenden Handlungsbedarf bei der Lösung der „eingefrorenen Konflikte“ im Südkaukasus. Spätestens als im Mai 2005 Öl durch die Baku-Tiflis-Ceyhan Pipeline gepumpt wurde, hat der Westen seine Aufmerksamkeit immer mehr auf die Region gerichtet. Nach jahrelangen zähen Verhandlungen zwischen der EU und der Türkei, wurde in Ankara das Abkommen zum Bau der 3300 Kilometer langen und 8 Milliarden teuren Pipeline unterzeichnet. Damit spielt die Sicherheit und Stabilität in der Region für die Energieversorgung Europas eine noch größere Rolle.
Wie sehr die EU ihre Aufmerksamkeit in den vergangenen Jahren verstärkt auf den Südkaukasus gerichtet hat, wird aus folgender Darstellung des Europäischen Parlaments deutlich: „Während der Südkaukasus früher kaum Interesse bei der Europäischen Union weckte, ist das heute längst anders. Seit 2003 hat die EU einen Sonderbeauftragten für den Südkaukasus. Seit 2004 sind die drei Länder in die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) aufgenommen. Die Unterstützung der EU für die Region nimmt zu, und 2006 wurde der Beschluss gefasst, Armenien, Aserbaidschan und Georgien auf die Liste der Länder zu setzen, in denen die Europäische Investitionsbank Darlehen gewähren kann. So lässt sich eine bescheidene, dafür aber stetige Tendenz für ein stärkeres Engagement der EU beobachten und diese Tendenz umfasst auch Bemühungen zur Lösung der Konflikte in der Region. Für das wachsende Interesse der Europäischen Union lassen sich mehrere Gründe aufzählen. Durch ihre Erweiterungen ist die Union geografisch näher an den Südkaukasus gerückt und hat neue Mitglieder, für die diese Region eine größere Rolle spielt. Im Gefolge der Rosenrevolution in Georgien 2003-2004 waren plötzlich neue Aussichten auf Demokratisierung und Fortschritt bei den Wirtschaftsreformen entstanden. Kurze Zeit später, als Russland seine Energielieferungen in die Ukraine und nach Georgien unterbrach, und zwar mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit aus politischen Gründen, sah es die EU als ihre vordringliche Aufgabe an, die eigene Abhängigkeit von russischer Energie zu begrenzen. Rasch zogen die Öl- und Gasvorkommen im Kaspischen Becken und die Transitmöglichkeiten im Südkaukasus die Aufmerksamkeit auf sich. Das neue Energieinteresse in der Region war ein zusätzlicher Grund für Bedenken angesichts der ungelösten regionalen Konflikte, die laut der damals neu angenommenen Europäischen Sicherheitsstrategie als die größte Bedrohung gesehen wurden.“
Aus Sicht der EU kommt Aserbaidschan aufgrund des Öls eine besondere wirtschaftliche Bedeutung zu: „Die EU ist mit Abstand der wichtigste Handelspartner aller Länder der Region. Wichtigste Komponente des Handels sind die Energieexporte Aserbaidschans in die EU. Die Ölausfuhren nehmen zu, denn 2005 wurde die Pipeline Baku-Tiflis-Ceyhan (BTC) in Betrieb genommen, die das Kaspische Meer mit dem Mittelmeer verbindet. Eine weitgehend parallel verlaufende Gas-Pipeline Baku-Tiflis-Erzurum (BTE, auch Süd-Kaukasus-Pipeline, SCP, genannt) wurde Anfang 2007 eröffnet“. Es ist also verständlich, dass, nachdem in den vergangenen Jahren die Bedeutung der Öl- und Gasvorkommen in der kaspischen Region zugenommen hat, die EU – und auch die USA – angefangen haben, die Lösung der Konflikte im Südkaukasus als „ihre vordringliche Aufgabe“ anzusehen, damit sie nicht „zur Erhöhung von Spannungen genutzt werden kann“. Es ist offensichtlich, dass, wenn es um die Energieversorgung des Westens geht, die Stabilität und Verlässlichkeit der Staaten wie in Aserbaidschan, Georgien und der Türkei Bedeutung gewinnt. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um undemokratische, autoritäre oder sogar diktatorische Regierungen an der Macht sind.
Bei den seit Jahren andauernden Verhandlungen um eine Lösung des Karabach-Konflikts hat sich in den vergangenen Jahren auch eine gewisse Veränderung abgezeichnet: Aserbaidschan, dass sich seiner wachsenden Bedeutung bewusst wurde, setzte darauf, sein Ziel durch direkte Verhandlungen mit Moskau, Brüssel und Washington zu erreichen. Dabei wurde es von Ankara, das kein Mitglied der Minsker-Gruppe ist und somit keinen Einfluss auf die Verhandlungen hat, unterstützt. Baku und Ankara haben es geschafft, alle am Verhandlungsprozess beteiligten Staaten der Minsker Gruppe mit allerlei Zugeständnissen in der Öl- und Gasfrage auf ihre Seite zu ziehen. Berg-Karabachs Stimme spielte bei den bisherigen Verhandlungen keine Rolle. Inzwischen ist aber selbst die Regierung in Yerevan kaum noch in der Lage den Gang der Entwicklung der zu beeinflussen. Es scheint, dass Berg-Karabach – und damit das Selbstbestimmungsrecht des armenischen Volkes – den „Energieinteressen“ und der „Sicherheit und Stabilität im Südkaukasus“ geopfert werden soll.
Die Frage ist, ob Armenien und Berg-Karabach – aber auch die Diaspora – noch die Kraft haben, diesen Kompromiss, der ihnen offensichtlich aufgezwungen werden soll, zurückzuweisen. Die vielen politischen Fehler und Versäumnisse rächen sich heute. Der Ex-Außenminister Vartan Oskanian oder die ARF Daschnakzutiun, die über 10 Jahre in der Regierung vertreten war, rufen jetzt lautstark zur „nationalen Einheit“ auf, um die drohende Niederlage in Berg-Karabach abzuwenden. Sie machen der Regierung unter Serge Sarkisyan schwere Vorwürfe, werfen ihr sogar Verrat vor. Aber sind sie nicht mitschuldig an der heutigen Lage? Im Vertrauen darauf, dass die aus Karabach stammenden Robert Kocharyan und Serge Sarkisyan am entschiedensten die Interessen Karabachs vertreten würden, haben die Armenier sich immer hinter ihre Politik gestellt. In der Regierungsbeteiligung der ARF Daschnakzutiun und dem Außenminister Vartan Oskanian sahen vor allem die Armenier in der Diaspora eine Garantie dafür, dass eine „nationale“ Politik vertreten wird. Doch was hat das Duo Kocharyan-Sarkisyan im Bündnis mit der ARF Daschnakzutiun und dem Außenpolitiker Oskanian in über 10 Regierungsjahren erreicht? Der außenpolitische Bankrott, für den sie die Verantwortung tragen, kann nicht einfach mit Appellen zur „nationalen Einheit“ verschleiert werden.
Toros Sarian
13.07.2009
Quellen:
1) Hürriyet Daily News, 09.07.09)
2) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: Sicherheit, Stabilität und Demokratie im Südkaukasus fördern, BT -DRS 16/12102, BT -DRS 16/12726 (Beschlussempfehlung und Bericht)
3) RIA Novosti, 29.06.09
4) Armenian Forum: A Journal of Contemporary Affairs. März 1999
5) http://www.europarl.europa.eu/parliament/expert/displayFtu.do?language=DE&ftuId=FTU_6.4.3.html&id=74